Resigniert und optimistisch

■ Gesichter der Großstadt: Weimarer Republik, Exil in Argentinien, DDR und Mauerfall - Pieter Siemsen blickt auf ein bewegtes Leben als Antifaschist zurück

„Es ist eine bittere Erkenntnis, daß alles, wofür ich mich eingesetzt habe, eine Utopie ist. Erreicht habe ich nicht das geringste bißchen.“ Pieter Siemsen zieht eine harte Bilanz aus seinem 82jährigen, von Kindheit an politisch geprägten Leben. Dabei widerlegt allein die Persönlichkeit des Antifaschisten, der sich auch heute noch als Sozialist bezeichnet, dieses bittere Resümee.

Es ist nichts zu spüren von Selbstmitleid oder jammerndem Tonfall, wenn Siemsen zurückblickt. „Ach, da fällt mir noch eine interessante Begegnung ein“, ist einer von Siemsens Lieblingssätzen, wenn er über sein Leben erzählt. Und er erinnert sich an die Schulzeit in der Weimarer Republik, als er sich mit den Anhängern von Hindenburg prügelte. Oder an seine Freundin Eva, die ihm die kräftigste Ohrfeige seines Lebens verpaßte. Oder an seinen Vater, August Siemsen, der Reichstagsabgeordneter für die Sozialistische Arbeiterpartei war und 1933 vor den Nazis nach Argentinien floh.

„Mein Vater war für meine politische Entwicklung ein sehr wichtiger Mensch“, sagt Siemsen. Geprägt vom Elternhaus, engagierte sich Siemsen bereits im Alter von zehn Jahren in einer sozialistischen Kindergruppe, später in Jugendorganisationen. 1935 ging er zunächst in die Schweiz, wo er jedoch wegen „Belastung des Arbeitsmarktes“ nach Nazideutschland zurückgeschickt wurde. 1937 folgte er seinem Vater ins politische Exil nach Südamerika.

Nicht allen seinen Bekannten gelang die Flucht. Traurig holt Siemsen das vergilbte Portrait einer ernst blickenden jungen Frau mit kurzen schwarzen Haaren hervor: „Eva konnte ich nicht retten.“ Die jüdische Freundin wurde von den Nazis ermordet.

In Argentinien arbeitete Siemsen in der von seinem Vater gegründeten Exilgruppe „Das Andere Deutschland“ mit, die für verschiedene sozialistische und humanistische Strömungen offen war. „Ich habe mich immer als Lateinamerikaner gefühlt“, hat Siemsen einmal gesagt. Wer mit lateinamerikanischer Mentalität Offenheit, Herzlichkeit und Gastfreundschaft verbindet, versteht diesen Satz bereits nach der ersten Begegnung mit Siemsen. Gäste werden von ihm und seiner Frau Lilly in der Treptower Wohnung herzlich begrüßt. „Solange er kein Freund von Dreggger ist“, schränkt Siemsen den Kreis der Willkommenen ein.

Trotz der Verbundenheit mit Argentinien kehrte Siemsen 1952 nach Deutschland zurück, zunächst nach West-Berlin. „Als ich die rote Fahne über dem Brandenburger Tor sah, kamen mir die Tränen“, erinnert er sich an seine Ankunft in Berlin. Er beantragte in dieser Zeit, als etliche Menschen ausreisten, die Einbürgerung in die DDR. „Aber dann habe ich die Erfahrung gemacht, daß es dort nicht so war, wie ich es mir vorgestellt hatte“, sagt er heute.

In seinen Erinnerungen sind es vor allem die mittleren Parteikader, die ihn immer wieder für kleine, menschliche Gesten rügten. Zum Beispiel weil er als Dolmetscher auf einer Reise nach Südamerika einem Straßenkind Geld geschenkt hatte. „Da sagte man mir, Geschenke würden die Kampfkraft des Proletariats untergraben. Dabei war das doch ein zehnjähriges Kind, dem ich das Geld gegeben hatte“, erinnert sich Siemsen immer noch verständnislos.

Noch 1989 habe er aber gehofft, die Demonstrationen in Leipzig und Berlin würden zu einer Veränderung innerhalb der DDR führen. „Ich bin nach wie vor Sozialist“, sagt er immer noch von sich. Und die bittere Erkenntnis, daß seine politische Arbeit größtenteils sinnlos war, würde ihn weniger stören, wenn er heute noch die Kraft hätte weiterzumachen, sagt er.

„Mir bleibt nur noch die Möglichkeit, meine Erfahrungen weiterzugeben“, beurteilt Siemsen seine heutige Situation. Interessierte gibt es dafür genug, sei es der Autor Gerd Eisenbürger, der Siemsens Lebensweg portraitierte. Oder die Organisatoren einer Ausstellung über Clément Moreau, auf der Siemsen einen Vortrag über den Maler hielt, mit dem er im Exil befreundet war. Bei solchen Veranstaltungen blüht der 82jährige regelrecht auf. „Solange es noch Menschen gibt, die politisch interessiert sind, gibt es auch noch Hoffnung“, lautet dann sein unerwartet optimistisches Fazit. Gesa Schulz

„Lebenswege“, herausgegeben von Gerd Eisenbürger, Libertäre Assoziation