"Innerer Frieden nicht ohne Streit"

■ Zweiter Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen vorgestellt / Joachim Gauck ist entschieden gegen einen Schlußstrich / Behörde erwartet den einmillionsten Antrag auf...

Berlin (taz) – Von einem Schlußstrich unter die DDR-Vergangenheit will der Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Joachim Gauck, nun wirklich nichts hören. Als er gestern den zweiten Tätigkeitsbericht seiner Behörde in Berlin vorstellte, wies der Herr über rund 180 Kilometer papierene Stasihinterlassenschaft entsprechende Forderungen als „völlig unmöglich“ zurück. „Wer tragfähigen inneren Frieden will“, so Gauck, „muß den Streit aushalten.“ Gaucks Beobachtung: „Die Abstände zwischen den jeweiligen Initiativen für einen Schlußstrich, eine Amnestie, ein Schlußgesetz und so weiter sind kürzer geworden.“ Motor dabei sei, daß es manchem der Wortführer offenbar schwerfalle, „sich von seinem eher ideologischen als realistischen DDR-Bild zu verabschieden“. Es gebe „die Neigung, aus schlechten Zeiten Gutes zu erinnern“.

Das Anfang 1992 in Kraft getretene Stasiunterlagengesetz nannte Gauck „eines der erfolgreichsten Gesetze der Bundesrepublik, das weit über die Erwartungen hinaus von den Bürgern angenommen worden ist“. Als Beleg dafür, daß es in der Bevölkerung keine Mehrheit für eine Schließung der Archive gibt, führte der Bundesbeauftragte die jüngsten Zahlen seiner Behörde an. So seien im ersten Halbjahr 1994 59.449 Anträge auf Akteneinsicht gestellt worden – in den Monaten Januar bis Mai 1995 dagegen mit 101.051 mehr als doppelt so viele. Die Zahl der täglich eingehenden Anträge sei immer dann auf über 1.000 pro Tag angestiegen, „wenn, wie im Herbst 1994, öffentlich über die Schließung der Akten debattiert worden sei“. Niemand müsse „Angst haben, daß die Akten geschlossen werden“, sagte Gauck weiter. Er sei sich „ganz sicher, daß das, was wir tun, nicht gegen die Interessen der ostdeutschen Bevölkerung gerichtet ist“. Schießlich habe nicht der Westen „uns die Überprüfungsmaßnahmen aufgedrückt, sondern der Osten hat sie erstritten“. Zahlen gab es zuhauf bei der Vorstellung des Tätigkeitsberichts. So erwartet die Behörde in Kürze den einmillionsten Antrag auf Einsicht in die eigene Akte. Im Bereich der Überprüfungsanfragen waren bisher 1,63 Millionen Anträge zu verzeichnen, von denen 89 Prozent (1,45 Millionen) bisher erledigt wurden.

Gauck widersprach in diesem Zusammenhang dem gängigen Vorwurf „Einmal IM – immer entlassen“. Am Beispiel der Berliner Lehrerschaft zeige sich, daß es sich bei solchen Aussagen um eine „Ausgrenzungs-Phrasologie“ handele. Viereinhalb Prozent der Pädagogen müßten nach den Überprüfungen als belastet bezeichnet werden. Entlassen worden seien aber nur 0,94 Prozent.

Die durchschnittliche „Belastungsquote“ im öffentichen Dienst liegt Gaucks Angaben zufolge bei rund sieben Prozent der Überprüften, wobei die Zahlen in Teilbereichen wie bei der Telekom oder Bundeswehr durch die Übernahme früherer DDR-Funktionsträger erheblich höher liegen kann.

Am Rande ging Gauck auch auf die Kritik an dem Gutachten über Gregor Gysi ein. Darin hatte die Behörde geurteilt, der PDS-Politiker habe „Arbeitskontakte“ zum Ministerium für Staatssicherheit unterhalten. Seine Mitarbeiter seien nur auf Anforderung des Bonner Immunitätsausschusses „mit unserem Wissen und unserem Know-how“ gutachterlich tätig geworden, verteidigte Gauck die Expertise. Seine Behörde nehme auch „keinen Einfluß auf Entscheidungen, die die Empfänger unserer Äußerungen fällen“.

Einen privaten Schlußstrich will Joachim Gauck noch nicht ziehen. Er stellt sich für eine zweite Amtsperiode als Bundesbeauftragter zur Verfügung. Wolfgang Gast

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