Das Herz der Szene

Jim Goldbergs Fotostudien US-amerikanischer und Schweizer Junkie-Kids im Zürcher Museum für Gestaltung  ■ Von Andreas Langen

Als Dave so um die Zwanzig war, schickte er seinem Freund Jim Goldberg eine Wunschliste für seine Beerdigung. Der Fotograf Robert Frank sollte kommen, Jesus und Buddha, Elvis, Picasso, Lenin, Madonna und neben vielen weiteren auch „alle meine Feinde und Kerouac (so ziemlich Gott – er kann das Gebet sprechen)“.

Keiner kam. Dave starb mutterseelenallein, mitten in der Nacht auf irgendeiner Intensivstation. Erledigt hatten ihn das Dope, der Strich, die Schlägereien, die Kälte, Speed, Crack, Alk, Aids, Nierenversagen, Leberzirrhose, Leukämie, ein Darmdurchbruch und weiß der Teufel, was noch alles – mit einem Wort: die Straße. Dave war eines von ungezählten amerikanischen Straßenkids, und seine Geschichte wäre, zusammen mit seinem ausgemergelten Körper, spurlos von der Erdoberfläche verschwunden, wenn er nicht vor einigen Jahren Jim Goldberg getroffen hätte.

Goldberg ist, ohne je moralisch zu werden, eine moralische Instanz in der zeitgenössischen amerikanischen Kunst. Seine Projekte drehen sich um die Konfliktfelder der amerikanischen Wirklichkeit, und folgerichtig ist sein zentrales Bildmedium jenes, mit dem sich immer noch am genauesten dokumentieren läßt: die Fotografie. Dabei ist Goldberg weit entfernt von naivem Realismus. Eben weil er weiß, wie perfekt Fotos lügen können, treibt er deren Anwendung in zwei Richtungen weiter.

Die eine betrifft den ästhetischen Umgang mit dem Bildmaterial. Schon in dem früheren Projekt „Rich and Poor“ ließ er die dargestellten Personen Notizen auf ihre Porträts schreiben: Es war Beglaubigung und Erweiterung der Bildaussage in einem. Jetzt konfrontiert Goldberg seine Fotos mit abstrakten Farbflächen, realen Objekten sowie Videos und Texten seiner Protagonisten – ein dichtes Gewebe verschiedener Bedeutungsstränge.

Noch wichtiger aber für die Glaubwürdigkeit von Goldbergs Arbeit ist sein persönlicher Einsatz. Zehn Jahre schuftete er für „Wolfsbrut“. Mitten in der Nacht nahm er die Anrufe der Kids entgegen, reiste ihnen quer durch die USA hinterher, pumpte ihnen Geld (das er nie wiedersah), verhandelte mit Behörden, beherbergte die Gestrandeten in seinem Haus. Goldberg dokumentierte nicht nur ihr Leben, er teilte es, selbst unter dem Hohn der Erwachsenenwelt. Einmal wurde Goldberg gemeinsam mit den Jugendlichen brutal festgenommen und verhört. Ein Polizist stieß dem Fotografen seinen Gummiknüppel zwischen die Beine und fragte ihn verächtlich: „Warum vergeudest du deine Zeit mit diesen Kids, Bildermann?“ Der läßt sie selber antworten. „I can't picture myself, I can't see me ...“, stammelt ein Mädchen in einem Video.

Goldberg zeigt Außenseiter, deren nackte Existenz das rechtschaffene Amerika am liebsten aus seinem Bewußtsein löschen würde; Schattenfiguren vom Gesellschaftsrand, die sich erst in den Lichtbildern des Fotografen erkennen – eine selten intensive Verschmelzung von Kunst und Leben.

Daß diese überhaupt stattfinden konnte, hat auch mit dem unbestrittenen Kunststatus von Fotografie in den USA zu tun. Von der Provinz bis hin zum Museum of Modern Art wird dort Fotografie gleichwertig neben Malerei und Skulptur gesammelt, gezeigt und gefördert. Goldberg war auf diese Infrastruktur angewiesen. Trotz bescheidenem Lebensstil und Unterstützung durch seine Frau konnte er nur deshalb so intensiv an „Wolfsbrut“ arbeiten, weil er immer wieder Gelder von Kunststiftungen erhielt – bei einem derartigen Projekt hierzulande wohl unmöglich.

„Auch bei uns in der Schweiz fehlen Fördermöglichkeiten für solche Vorhaben“, bedauert Martin Heller vom Zürcher Museum für Gestaltung, wo derzeit die Weltpremiere von „Wolfsbrut“ stattfindet. Heller war aus mehreren Gründen an der Schau interessiert. Der studierte Ethnologe teilt Goldbergs Ansatz einer visual anthropology: „Wir wollen etwas thematisieren, nicht musealisieren.“ Dazu ist Hellers Arbeitsplatz der ideale Ort. Bis vor kurzem befand sich das Museum für Gestaltung nämlich im Epizentrum einer Drogenszene, deren unverhüllte Anwesenheit das ganze Land erschütterte. Die Parallele zu Goldbergs Thema ist markant: dort die amerikanischen Kids, ausgerechnet in Hollywood am Ende aller Träume angelangt, hier die BewohnerInnen der drittreichsten Stadt der Welt, deren Sucht nach den Gesetzen des hemmungslosesten Kapitalismus vermarktet wird – beides vor den Augen einer pikierten Öffentlichkeit, die schließlich den Tatsachen nicht mehr ausweichen kann.

„Es gab Zeiten, in denen niemand hier sein Auto ausparken konnte, ohne vorher nachzuschauen, ob nicht ein Junkie auf Trip darunterlag“, erinnert sich Martin Heller. Buchstäblich mit Blut schrieben die Fixer jahrelang

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

ihr Elend an die Fenster der Museumsleute, denen nicht nur die ängstlich daheimbleibenden BesucherInnen fehlten, sondern auch die Begriffe, mit der sozialen Katastrophe vor ihrer Tür umzugehen.

Aus diesem Defizit entstand eine eigene Ausstellung („Letten it Be“), die gleichzeitig mit „Wolfsbrut“ zu sehen ist. Perfekt verarbeitete Colorabzüge zeigen menschenleere Ansichten des abendlichen Stadtteils Letten, stets erkennbar am eisigen Blaulicht, das die Adern unsichtbar macht und so das Fixen erschweren soll. Ein gutes Dutzend sauber ausgeleuchterer Filminterviews zeigt die bedächtig sprechenden Köpfe von FixerInnen, SozialarbeiterInnen, AnwohnerInnen, PolitikerInnen. Dazu veröffentlicht das Museum ein Textheft, in dem ebenso kompetente wie wohlformulierte Beiträge das Thema von verschiedenen Seiten beleuchten.

Die Kühle dieser Schweizer Präzisionsarbeit ist geradewegs das Gegenteil von Goldbergs Stil. Distanz gibt es bei ihm nicht. Die Beteiligten, Straßenkids, Eltern, SozialarbeiterInnen, reden nicht über Probleme; sie rotzen ihre Verzweiflung heraus. Wo die Zürcher den kümmerlichen Besitz eines Junkies adrett in einer Vitrine sortieren, stellt Goldberg eine herausgerissene Stahlschublade hin, in der konfiszierte Mordinstrumente herumliegen. Seine Fotos sind oft unscharf, brutal geblitzt wie einst Weegees Schnappschüsse, von kalkulierter Grobkörnigkeit; die Videobilder aus einer taumelnden Handkamera torkeln so unkontrolliert über die Monitore wie die gefilmten Junkies durch Parks und Restaurants.

Der geistige Übervater dieser rotzigen, kaputten Ästhetik ist der Zürcher Exilant Robert Frank, dessen Lebenswerk ebenfalls zur Zeit dort zu sehen ist: Mit seinem epochalen Werk „Die Amerikaner“ hat Frank vor 40 Jahren den Blick auf die Rückseite des amerikanischen Traums gerichtet, und sein Freund Walter Keller vom Scalo-Verlag zögert nicht, Jim Goldberg als Erben des Altmeisters einzustufen: „,Wolfsbrut‘ ist für mich ein Stück über die ringsum beginnende Apokalypse der Städte, das Wegbrechen der Familienstrukturen – ,Die Amerikaner‘ der neunziger Jahre.“

Daneben gibt es eine weitere, sehr konkrete Verbindung: Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten machte Frank den Schweizer Verleger auf Jim Goldbergs Projekt aufmerksam, als der in den USA keinen Verlag fand. So wurde Robert Frank, den der Straßenjunge Dave gerne bei seiner Beerdigung gehabt hätte, immerhin zum Paten seiner medialen Wiedergeburt.

Jim Goldberg: „Wolfsbrut/Raised by Wolves“, noch bis 30. Juli im Museum für Gestaltung, Zürich. Der Katalog ist bei Scalo erschienen, 304 Seiten, 78 DM.

Außerdem Jim Goldberg: „Letten it Be“, auch bis 30. Juli im Museum für Gestaltung, Zürich. Katalog 92 Seiten, 16 SF.

Robert Frank: „Moving Out“, noch bis 30. Juli im Kunsthaus Zürich; Katalog 336 Seiten, 148 DM.