„Die Grenze ist der Körper der Frau“

■ Die türkische islamische Bewegung „modernisiert“ sich / Muslimische Frauen suchen nach einem neuen Selbstverständnis / Ein Gespräch mit der Soziologin Nilüfer Göle

taz: Warum nähern Sie sich der islamischen Bewegung über die dort engagierten Frauen?

Nilüfer Göle: Fortschritt hängt in muslimischen Ländern wie der Türkei von der Emanzipation der Frauen ab. Deshalb war die Frauenfrage in diesen Ländern immer zentral. Der Schleier symbolisiert den Unterschied zwischen dem Westen und der islamischer Welt. Die wirkliche Grenze zwischen den Zivilisationen ist der Körper der Frau, ihre Weiblichkeit. Frauen sind die Schlüsselfiguren, um die islamische Bewegung und das Verhältnis zwischen Ost und West, zwischen Islam und Moderne zu verstehen.

Sind es nicht wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten, die die islamische Bewegung stark machen?

Ich teile nicht die Meinung von Politikwissenschaftlern, die sagen, daß am Erstarken islamischer Bewegungen nationalistische oder sozialistische Ideologien schuld sind. Ich glaube auch nicht, daß man die Ursache nur in ökonomischen Problemen suchen kann. Wir hatten schon immer diese Art Dritte- Welt-Probleme in der Türkei. Für mich ist es vielmehr eine Krise der Moderne. Und die islamische Bewegung ist eine Antwort darauf. Das Symbol des Kopftuchtragens ist sehr wichtig geworden für Frauen. Es ist sozusagen die Subversion des Schleiers. Sie tragen ihn als politisches Statement gegen den säkularisierten Individualismus. Diese Kritik an der Moderne ist auch eine Kritik an der Beschäftigung mit dem Körper. Nach dem westlichen Zivilisationsmodell glauben wir, daß wir unseren Körper ganz und gar kontrollieren können. Daß er nicht biologisch oder transzendental bestimmt wird, sondern allein vom menschlichen Willen. Man kann Krankheiten vermeiden, medikamentös bekämpfen wie zum Beispiel einen zu hohen Cholesterinspiegel. Man bearbeitet den Körper im Fitneßcenter, bis er zur Skulptur wird. Die Spirale der Moderne schraubt sich hoch.

Will die islamische Frau diese Spirale zurückdrehen und versteckt deshalb ihren Körper?

Auch in den islamischen Bewegungen nehmen Frauen an der Gesellschaft teil, entwickeln so neue soziale Rollen und finden zu einer neuen Persönlichkeit. Sie würden das Persönlichkeit nennen, nicht Individualismus, denn Individualismus gilt für den Westen, mit dem sie nicht in Beziehung gebracht werden wollen. Aber gleichzeitig kann die islamische Bewegung ihre Persönlichkeitsentfaltung auch einschränken, weil sie die Rolle der Frau im klassisch islamisch- konservativen Sinne definiert und die Frauen daran erinnert, ins Haus zurückzukehren. Dieser Widerspruch kann jedoch sehr fruchtbar sein. Er hat Sprengkraft. Wie die Frauen ihn lösen, muß man abwarten. Und ich würde sagen, die Richtung, die die islamische Bewegung einschlagen wird, hängt sehr stark von dem Platz ab, den die Frauen innerhalb der Bewegung und in der Gesellschaft einnehmen. Aber sie hängt nicht nur von den Frauen in diesen Bewegungen ab, sondern auch von den anderen säkularisierten Frauenbewegungen und natürlich vom Demokratisierungsprozeß der gesamten Gesellschaft. Wichtig ist allerdings die soziale Interaktion zwischen den einzelnen Gruppierungen.

Wie war diese Interaktion bislang?

Oft haben Feministinnen, die zum Islam arbeiteten, den politischen Hintergrund total ignoriert. Sie waren hauptsächlich interessiert an den Rechten und den Lebensbedingungen der Frauen. Wir können die islamische Bewegung nicht verstehen, ohne die zentrale Stellung der Frau im Islam als Hüterin der Moral zu begreifen.

Für welche Moral kämpfen die kopftuchtragenden Frauen dann?

Sie kritisieren die türkische Moderne, die sie mit Verwestlichung gleichsetzen. Sie beziehen sich darauf, daß in westlichen Gesellschaftsmodellen Männer und Frauen enger zusammenrücken und daß dadurch die männlichen Kritierien allgemein gültig werden. Das ist nicht neu. Auch Feministinnen kritisieren das.

Was war Ihre Untersuchungsthese?

Zunächst einmal war die direkte Auseinandersetzung mit den Frauen sehr wichtig für mich. Mich interessiert die versteckte Dynamik der Bewegung mehr als der öffentliche politische Diskurs. Was ich als Soziologin spannend finde, ist die soziale Praxis und wie sich die Widersprüche einschleichen.

Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Ihnen als aufgeklärter, fortschrittlicher, intellektueller Frau und diesen islamischen Frauen?

Zuerst dachte ich, ich habe nichts, aber auch gar nichts mit ihnen gemeinsam. Im Laufe der Gespräche differenzierte sich meine Wahrnehmung. Eine Frau sagte beispielsweise zu mir: „Wissen Sie, die Unterschiede zwischen uns und unseren Müttern sind größer als der Unterschied zwischen Ihnen und mir.“ Diese Frauen wollten sich von ihren Müttern unterscheiden, sie wollen nicht deren Leben leben. Das war eine Art Entmystifizierung, weil ich erkannte, daß sie die gleichen Fragen stellen wie viele andere Frauen auch. Sie waren beschäftigt mit der Frage, wie sie an der Öffentlichkeit teilhaben können, soziale und berufliche Rollen einnehmen können, ohne ihre muslimische Identität aufzugeben.

Aber dadurch stehen sie doch auch im Widerspruch zu dieser Bewegung?

Das eigentliche Problem der Verwestlichung ist, daß diese Frauen sich nicht mit der Elite identifizieren können. Weil die Elite andere Wertsysteme, andere Ideale hat. In der westlichen Welt können sich die Menschen, die aus bescheidenen Verhältnissen aufsteigen, an ihren eigenen Eliten orientieren. Weil es die gleiche Kultur ist. Aber die Verwestlichung, und das ist der wesentliche Widerspruch der Modernisierung in der Türkei, führte zu einem tiefen Bruch zwischen den Eliten und denen, die von unten kommen. Sie eifern nicht ihrer Elite nach, sondern suchen sich andere Vorbilder. Aber sie sind trotzdem Teil eines Modernisierungsprozesses.

Ich würde sogar behaupten: Das Engagement dieser Frauen in der islamischen Bewegung ist weder ein Rückschritt, noch bedeutet es das Scheitern der kemalistischen Politik. Im Gegenteil. Ich sehe das Engagement dieser Frauen sogar als einen Erfolg des kemalistischen Projekts. In dem Sinne, daß sich so die Ausbildung der Frauen fortsetzt und sich ihnen damit, jetzt sogar in der islamischen Bewegung, eine Vielfalt von Möglichkeiten eröffnet. Interview: Edith Kresta