Mehr als Auschwitz, Tod und Trauer

Zum fünften Mal kamen jüdische Künstler aus der ganzen Welt, aber auch aus Polen nach Kazimierz, dem früheren jüdischen Viertel Krakaus. Sie wollten zeigen, daß es in Polen noch ein jüdisches Leben gibt  ■ Von Gabriele Lesser

In der Synagoge Tempel im Krakauer Stadtteil Kazimierz drängen sich die Menschen. Selbst die Empore ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Die rothaarige Dame im grünen Chiffonkleid nickt befriedigt: „Siebzig Prozent Juden!“ – „Ja“, meint ihr Nachbar und steht auf, um besser sehen zu können, „so viele habe ich hier schon lange nicht mehr gesehen. Wo kommen die denn alle her?“ Als Joseph Malovany, der weit über New York hinaus bekannte Chefkantor der Fifth-Avenue-Synagoge, das Lied vom armen Mojschele anstimmt, rückt der alte Mann bis an die Stuhlkante vor, um nur ja keinen Ton zu verpassen. „So schön habe ich das noch nie gehört“, flüstert er. „Jiddisch. Das kann doch heute niemand mehr.“

Das „Festival der Jüdischen Kultur in Kazimierz“ beginnt sich zu etablieren. Waren 1988, zum ersten Festival, noch fast ausschließlich junge Polen gekommen, die plötzlich die jüdische Kultur entdeckt hatten und fasziniert Klezmer-Musik hörten, reisten zum inzwischen fünften Festival, das vergangene Woche zu Ende ging, Juden aus ganz Polen an. „Das ist wie ein Familientreffen“, erklärt Irena Dzialak, die rothaarige Dame.

Zum diesjährigen Programm zählt auch eine Fotoausstellung mit dem trotzigen Titel: „Wir sind noch da, und wir werden nicht die letzten sein!“. Die Bilder des Ehepaares Maciej Hen und Elzbieta Malka zeigen nur junge Juden, vor allem Kinder. Kinder in der Synagoge, Kinder im Makkabi-Sportklub, Kinder beim Hebräisch-Unterricht. Mit der Ausstellung wollen sie gegen einen Bildband protestieren, der vor fast zehn Jahren in Polen und dann auch in Deutschland erschien und – wie die beiden 40jährigen meinen – das Bild der Juden in Polen bis heute bestimmt: Alter, Krankheit, Elend, Friedhöfe, Leere und Trauer. „Dabei sehen alle alten Leute in Polen so aus, nicht nur Juden. Und auch ein katholischer Friedhof wirkt bei Regen verlassen und melancholisch, meint Maciej Hen. „Die letzten Juden von Polen! Unverschämt ist das!“

Am Abend treffen in der Philharmonie zwei Gruppen aufeinander, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: das polnische Klezmer-Trio „Kroke“ (jiddisch Krakau) und Shlomo Bar mit seiner Band „Hrabrera Hativeet“ aus Israel. Kroke variiert das klassische Klezmer-Repertoire und ruft ein Klangbild hervor, das an schräge Holzhäuser erinnert, an enge Gassen und verhangene Regentage. Bei Shlomo Bar dagegen wird der Konzertsaal zur Wüste, im Mund brennen scharfe Gewürze, Grillen zirpen, eine Fata Morgana gaukelt einen duftenden Mokka vor. Mit dem letzten Trommelschlag lösen sich die Traumbilder auf, und auf der Bühne hängt nur noch das Reklameschild des Sponsors: „Nisskosher“, ein Wodka der Familie Nissenbaum aus Konstanz.

Kultur und Kommerz sind in Kazimierz nicht voneinander zu trennen. Der Wiederaufbau des ehemaligen jüdischen Stadtviertels zieht unzählige Besucher in die Stadt, für sie werden immer neue „jüdische“ Restaurants, Buchhandlungen und Galerien eingerichtet. Auch das sieben Tage dauernde „Festival der jüdischen Kultur“ wäre ohne Mäzene nicht zu realisieren. Ein amerikanischer Fernsehsender hat über 200 Flugtickets für jüdische Künstler aus den USA gesponsert. Eine ungarische Fluglinie, ein großes Hotel in Krakau, eine Reisebürokette, eine überregionale polnische Zeitung und ein Radiosender beteiligen sich an den Kosten. Doch warum, so fragen viele, soll man Kazimierz wieder aufbauen? Warum es durch ein Festival zu „neuem Leben erwecken“? So wie es einmal war, wird es ohnehin nie wieder. Die 64.000 Juden, die vor dem Krieg in Krakau lebten, werden nicht zurückkehren. Kazimierz also ein jüdisches Freilichtmuseum? Ein Disneyland für die Touristen?

„Meine Generation“, so Janusz Makuch, einer der Organisatoren des Festivals, „weiß doch fast gar nichts von den Juden. Wir haben immer nur gehört, daß wir einen ungeheuren Verlust erlitten haben. Aber wir kennen die Kultur doch gar nicht. Wie sollen wir da wissen, was wir verloren haben? Wie sollen wir die Juden verstehen können? Kazimierz ist kein Disneyland!. Wir sind keine Juden, gut. Aber wir sind auch nicht die Künstler. Wir organisieren das Festival nur. Die Künstler sind Juden aus Amerika, Israel und Polen. Ist Judentum nur authentisch, wenn wir es in Auschwitz besichtigen können?“

Czeslaw Jakubowicz, der Vorsitzende der „Jüdischen Glaubensgemeinschaft in Krakau“, sagt: „Eigentlich ist Kazimierz unser Viertel, aber von uns lebt hier niemand mehr. Wir wohnen im Zentrum Krakaus. Natürlich freuen wir uns über das Interesse, aber wir sind schon alt und müde. Im letzten Jahr sind fast 50 Gemeindemitglieder gestorben. Wir sind nur noch 150. Das Festival unterstützen wir. Ob es eine Zukunft der Gemeinde gibt?“ Jakubowicz zuckt die Schultern und schweigt.

Henryk Halkowski, der sich selbst augenzwinkernd als „Berufsjuden vom Dienst“ bezeichnet, versteht die ganze Aufregung nicht: „Natürlich ist Kazimierz heute ein jüdisches Viertel ohne Juden, aber was für eine Alternative gibt es? Es macht keinen großen Spaß, als Jude in Polen ständig und immer nur daran erinnert zu werden, daß man auf einem riesigen jüdischen Friedhof lebt. Und dieser permanente Antisemitismus geht einem auch auf die Nerven.“

Erst vor einigen Tagen hatte in Polen wieder eine antisemitische Predigt für Aufsehen gesorgt. Der ehemalige Beichtvater Lech Walesas, Henryk Jankowski, hatte in der Brigittenkirche in Danzig gefordert, daß die Regierungsmitglieder offen sagen sollten, „ob sie aus Moskau oder Israel“ kämen. In einer späteren Erklärung fügte er hinzu, daß der Davidstern als Symbol der Unterdrückung sowohl im Hakenkreuz als auch in Hammer und Sichel enthalten sei. Walesa, der dem Gottesdienst beigewohnt hatte, reagierte erst nach massivem Protest aus dem Ausland. Solange er Präsident sei, erklärte er, werde er keine antisemitischen Erscheinungen in Polen dulden.

„Berufsjude“ Halkowski ärgert am Fall Jankowski aber nicht nur die Haltung des Präsidenten: „Dieser Idiot von Priester hat uns die Show gestohlen. Die Presse hat nur über ihn berichtet. Dabei wäre dieses Festival eine so gute Gelegenheit gewesen, einmal positiv über Juden zu berichten.“