■ Der Schriftsteller Ralph Giordano antwortet auf Gerhard Zwerenz' Bekenntnis „Ich stehe zu Gregor Gysi“
: Ich stehe zu Bärbel Bohley

Gerhard Zwerenz, Schriftsteller und Abgeordneter für die PDS im Bundestag, hat Ende voriger Woche in einer Presseerklärung Gregor Gysi gegen „Frau Bohley und eine Handvoll gutbedienter DDR- Spätdissidenten“ verteidigt, die „den Frust ihrer selbstverschuldeten Niederlagen gegen Gregor Gysi, dem die Rufmordkollektive Mandantenverrat vorwerfen“, richteten. „Mit Gysi soll die Erneuerungsfähigkeit der PDS getroffen werden“, schreibt Zwerenz. „Darüber hinaus geht es gegen alle DDR-Bürger, denen Minderwertigkeitsgefühle und Scham eingeredet werden ... Hitlers Kinder rächen sich an Hitlers Opfern. Der Delinquent entstammt einer kommunistisch-jüdischen Familie, die 18 Verwandte im Dritten Reich verlor. Der Kampf geht weiter ... Wir werden die Umtriebe protokollieren für die nächste Wende.“ Zwerenz wirft den „paranoiden Revolutionsparodisten“ bloße Anmaßung vor. „Was wiegt Bohleys britisches Exil gegen die Verfolgung unseres Genossen Paul Merker.“ Zwerenz endet mit den Worten: „Ich stehe zu Gregor Gysi und hoffe, er hält durch gegen die zur Büchse der Pandora gewordene Gauck-Behörde. Entweder wir verschließen sie oder öffnen die westlichen Geheimakten.“

Der Lärm um den Streit „Gregor Gysi“ ist bis zu meinem westeuropäischen Quartier gedrungen, von dem aus ich den Stoff für ein Buch über Irland zusammentrage. Da die Auseinandersetzung weit über Personen hinaus mit ihren neuerlichen Angriffen, vor allem auf Bärbel Bohley, exemplarischen Charakter hat und essentielle Teile meiner Biographie berührt, mische ich mich ein.

Mit Entsetzen, ja einem gewissen Unglauben nehme ich die geradezu zwanghafte Wiederholung einer spezifisch deutschen Tragödie wahr. Ich spreche von dem historischen Verdrängungssieg nach dem Ende des Nationalsozialismus 1945/49 und seiner drohenden Wiederkehr nach der Implosion des realexistierenden Sozialismus mit seinen Vorzeichen. Sollte es dabei jemand wagen, ausgerechnet mich der Gleichsetzung von NS- und SED-Regime zu zeihen, den frage ich: Wird ein so scheußliches System wie das von Ulbricht/Honecker etwa weniger scheußlich dadurch, daß es noch ein scheußlicheres gab? Es sind die gemeinsamen Verdrängungsartikulationen beider Epochen selbst, die übereinstimmenden Reaktionen der Schuldabwehr, die, ungeachtet der Unterschiedlichkeit der Systeme, deren Täter für einen Augenzeugen wie mich bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander verschmelzen.

Und es ist das Bekenntnis von Gerhard Zwerenz „Ich stehe zu Gregor Gysi“, das in diesem Zusammenhang einen Höhepunkt verfälschender Argumentation darstellt, den ich nicht unerwidert lassen kann. Leichten Herzens geschieht das nicht, verbindet mich mit Zwerenz doch eine nunmehr 35jährige persönliche Bekanntschaft mit weiten Strecken hoher Übereinstimmung in so manchen Grundfragen, bis hinein in die jüngsten Bemühungen zur Wiederherstellung der Ehre deutscher Wehrmachtsdeserteure in Erfurt. Nach Abwägung der Güter und Gefahren entscheide ich mich für diese Entgegnung.

Wenn in Deutschland ein Gewaltsystem zusammenbricht – von außen besiegt 1945 oder an der eigenen Lüge implodiert 1989 –, dann gibt es plötzlich keine Täter mehr, sondern nur noch Opfer. Unter ihnen jedoch eine besondere Spezies: die Opfer der Opfer! Dazu mutieren die Verfolger von gestern immer dann, wenn die zuvor Verfolgten, Bekämpften, Unterdrückten von ihnen Einkehr, Rechenschaft, Ehrlichkeit fordern (meist jenseits des Strafrechts übrigens). In diesem Moment werden in Deutschland die Täter von gestern zu Opfern der Gegenwart. Dann wird „Rache, Haß, Vergeltung!“ geschrien, dann kehrt sich wie automatisch die historisch belegte Opfer-Täter-Situation um und verwandelt sich in ihr Gegenteil.

Niemand ruft heute so laut nach dem „Recht“ wie jene, die es zuvor auf dem Territorium der DDR mit Füßen getreten haben. Auch dafür ist die Auseinandersetzung Gysi – Bohley charakteristisch. Gerade die, die mit keinem anderen Motiv DDR-Bürgerinnen und -Bürger bedrückt, bespitzelt, eingekerkert haben als dem der Staatsräson des SED-Gewaltregimes und seiner Machterhaltung, gerade sie, die dafür Zigtausende verfolgten, ja, über Leichen gingen, sie beschwören heute inflatorisch die Rechtsbrüche, die ihnen angetan werden.

Wenn Gerhard Zwerenz schreibt: „Es waren Kommunisten, die unter Hitler und Stalin die meisten Opfer bringen mußten“, so ist das nur die halbe Wahrheit. Weit mehr Genossinnen und Genossen als in Hitlers Lagern sind im „Archipel Gulag“ umgekommen. In sein Plädoyer für Gregor Gysi nun Namen wie Paul Merker und Leo Bauer einzubringen, kann einem die Sprache verschlagen. Dies ist die Spitze der Unwahrhaftigkeit eines Kommentars, der Stellung nimmt zur „unwahrhaftigen Haltung“ gegenüber Gysi. War doch das Brandmal des realexistierenden Sozialismus auch deutscher Provenienz gerade seine daseinslange Entsolidarisierung mit den Millionen und Abermillionen Opfern des eigenen Systems, indem er entweder dazu geschwiegen oder sie gerechtfertigt hat.

Von nicht geringerer Unwahrhaftigkeit ist der Passus, in dem sich auf das Schicksal kommunistisch-jüdischer Familien bezogen wird, mit Opfern im Holocaust – wie in Gysis Fall. Ganz grundsätzlich gilt auch für „kommunistisch- jüdische Familien“: Wer sich aus einem verfolgten Nazigegner in einen stalinistischen Verfolger verwandelte, der handelte besonders verwerflich! Mit der Legitimation eines Überlebenden des Holocaust verwahre ich mich gegen jeden solchen selbsterklärten, durch das eigene Tun aber verwirkten KZ-Bonus. Ich verwahre mich ferner gegen diesen weiteren Versuch, den Völkermord an den Juden im deutsch besetzten Europa während des Zweiten Weltkrieges als Kronzeugen für eine abermalige deutsche Verdrängungsakrobatik zu instrumentalisieren und zu verfälschen! Der Satz aber „Hitlers Kinder rächen sich an Hitlers Opfern“ ist nicht nur ein himmelschreiendes Unrecht gegen Bärbel Bohley, Jürgen Fuchs und ihre selbstverständlich antinazistischen Mitstreiter, sondern auch die infamste Form von Sippenhaft, die sich denken läßt. Der Satz ist die Zwerenzsche Selbstdisqualifizierung.

Ganz zu dieser Methode paßt, den „Fall Gregor Gysi“ nach 100 Jahren mit der „Affäre Dreyfus“ gleichzusetzen. Wer das tut, der macht sich nicht nur lächerlich, sondern stellt seinen Geschichtskenntnissen auch selbst die Note 6 aus. Wo liegt denn Gregor Gysis Teufelsinsel samt tropendurchseuchter Haftzelle? Und wer wäre denn so hirnverbrannt, ein Plädoyer für die Nummer 1 der PDS in einem Atemzug zu nennen mit Emile Zolas großem „J'accuse“?

Und Zwerenz' Bekenntnis, sich immer mit den „Benachteiligten“ zu solidarisieren, diesmal im Osten? Wo ist Gerhard Zwerenz' Kampfansage gegen die haufenweise ehemaligen SED-Bonzen, die ihr Schäflein längst ins trockene gebracht haben und mit ihrem Herrschaftsduktus und Durchsetzungsvermögen auch heute wieder den Ton angeben? Nein, wer sich um die wirklich „Benachteiligten“ auf dem Territorium der ehemaligen DDR kümmern wollte, der fände reichlich Gelegenheit dazu unter denen, die der realexistierende Sozialismus zwischen Oder und Elbe körperlich und seelisch ruiniert hat – Tausende und Abertausende.

Kriminell jedoch wird Zwerenz' Confessio dort, wo er verspricht, „die Umtriebe gegen Gysi zu protokollieren“, und zwar „für die nächste Wende ...“. Das halte ich für eine persönliche Feme-Drohung gegen Menschen wie Bärbel Bohley, direkt und unmittelbar, eine physische Kampfansage gegen alle, die von Zwerenz als „Revolutionsparodisten“ abqualifiziert werden. In dem vor Ungeheuerlichkeiten strotzenden Schreiben ist der Passus von der „nächsten Wende“ der ungeheuerlichste. Mit ihm hat Zwerenz der Partei, für die er sich aufstellen und wählen ließ, den denkbar schlechtesten Dienst erwiesen.

Conclusio: Wie nach 1945/49, so sahen sich auch nach 1989/90 nicht die Täter in die Defensive gedrängt. In der Defensive sind vielmehr, damals wie heute, nur allzu viele von denen, die Gerhard Zwerenz in unentschuldbarer Weise als „lebenslange bürgerrechtliche Spätlinge“ beschimpft und damit einer Frau wie Bärbel Bohley verbal weiterhin jene Gewalt antut, mit der die Stasi begonnen hatte. Was wir erleben, ist die zweite große Exkulpierung deutscher Täterschaft. Gregor Gysi? Er darf beruhigt sein, ist er doch dem „Rechtsstaat“ in die Hände gefallen, und der ist noch nie mit einem gewalttätigen Vorgänger fertig geworden, am wenigsten seine Justiz.

Mich kann das nur aktivieren. Es gibt keine andere moralische Anwaltschaft als die für die Opfer und gegen ihre Verfolger von einst. Ihr Gros ist nach 1989/90 so selbstverständlich in die Gesellschaft integriert worden wie Hitlers Anhänger in der Nachkriegszeit.

Aber der Kampf ist nicht ausgetragen. In ihm stehe ich zu Bärbel Bohley.