Mikrokosmos der Gesamtgesellschaft

Noch immer sind die akademischen Gremien an südafrikanischen Unis überwiegend mit Weißen besetzt, die StudentInnen fordern jedoch deren „Afrikanisierung“: Die Unruhen stimmen nicht gerade optimistisch  ■ Von Adewale Maja-Pearce

Wie soll man ein Jahr nach dem Ende der Apartheid über Südafrika schreiben, ohne sich erneut auf die ermüdende Rassenfrage einzulassen, die nun doch eigentlich erledigt sein sollte? Beim Lunch im Senior Common Room der Johannesburger Universität des Witwatersrand zum Beispiel läßt sich einfach nicht übersehen, daß der Lehrkörper vorwiegend weiß, das Bedienungspersonal dagegen schwarz ist. Dieser Mikrokosmos der südafrikanischen Gesellschaft – Weiße an der Spitze, die Schwarzen unten, hin und wieder Schattierungen dazwischen – entsprach also ziemlich genau den schlechten alten Tagen. Aber was hatte ich eigentlich erwartet?

Ein Jahr reicht kaum aus für die Ausbildung eines qualifizierten Personals, das für ein ausgeglicheneres Verhältnis zwischen den „Rassen“, wie es einstmals hieß, sorgen könnte – aber selbst diese Formulierung wirkt suspekt, weil sie sich der Sprache bedient, die früher die Ungerechtigkeit untermauerte. Weiße waren ihrer Hautfarbe wegen nicht weniger Südafrikaner – wobei das nicht ganz so einfach für die vormals Entmündigten ist, die sich weitgehend in der gleichen Position wiederfinden wie vor der Wahl, mit der sie eine Mehrheitsregierung ins Amt brachten. Politisch ist die Frage vielleicht bedeutungslos geworden, aber eine soziale Tatsache bleibt sie trotzdem, wie die neuen Unruhen an der Universität bezeugen.

Außerhalb der behaglichen Atmosphäre des Senior Common Room, wo hervorragende Kapweine zu subventionierten Preisen verkauft werden und das Menü selbst anspruchsvollsten Gaumen gerecht wird, häuften sich seit letztem Oktober die Proteste schwarzer Studenten. Auslöser war die Entlassung von zwei Kassenangestellten, die des Diebstahls beschuldigt worden waren. Dem folgte ein Geiseldrama unter Beteiligung von Personal und Studenten, das mit der Entlassung von neun Angestellten, mit Disziplinarmaßnahmen gegen weitere 39 und der Relegation von elf Studenten endete. Den Studenten zufolge lag das eigentliche Problem in der Unfähigkeit oder mangelnden Bereitschaft der Universitätsleitung, sich entsprechend der neuen politischen Realität neu zu konstituieren. Die Macht bleibt, wo sie immer war: in den Händen von Weißen, fast unweigerlich Männern; die Studenten ihrerseits fordern die „Afrikanisierung“ des akademischen Rates, das heißt mehr schwarze Gesichter als Beweis dafür, daß die Leitung ihre Loyalitätserklärungen gegenüber der neuen Zeit auch wirklich ernst meint.

Das Problem besteht nicht nur an der Universität des Witwatersrand. An den Zweigstellen der Vista-Universität in Soweto, Sebokeng, Bloemfontein und Port Elizabeth zum Beispiel verlangen schwarze Studenten ebenfalls den Rücktritt der vorwiegend weißen Leitungsgremien. Sie haben begonnen, Lehrveranstaltungen zu boykottieren, um ihre Forderungen durchzusetzen – darunter auch die nach Mitsprache in den Fakultätssitzungen, in denen die akademische Politik festgelegt wird, und die Beteiligung an der Erarbeitung neuer Lehrpläne. Und im Technikum des Oranje-Freistaats wurde im März dieses Jahres die Situation auf die Spitze getrieben, als Sicherheitskräfte mit Vogelschrot auf protestierende Studenten schossen, die sich den Zugang zur Verwaltung erzwingen wollten, um den Rücktritt des Direktors zu fordern. Elf Studenten wurden verwundet, zwei von ihnen schwer.

Angesichts der gewaltigen Aufgaben, vor denen das neue Südafrika steht, könnten die derzeitigen Probleme an den Hochschulen relativ unwichtig erscheinen. Das stimmt aber nur dann, wenn man die studentischen Forderungen wörtlich nimmt, und ebendiesen Fehler scheinen die Universitätsleitungen begangen zu haben – deshalb steckt man gegenwärtig in einer Sackgasse. Der Verwaltungsrat der Zweigstelle Soweto der Vista-Universität zum Beispiel wies eilfertig darauf hin, eines seiner Mitglieder, Fikile Bam, sei nicht nur schwarz, sondern habe auch mit Nelson Mandela auf Robben Island im Gefängnis gesessen. Damit soll natürlich gesagt werden, die Aufnahme Fikile Bams in diesen Kreis bilde den unwiderlegbaren Beweis des „Fortschritts“ und des guten Willens; was wiederum bedeutet, daß die Weigerung der Studenten, den revolutionären Charakter der Änderungen zu begreifen, nur ihre politische Unreife beweist: Schaut her, sagen sie (oder sagen es vielmehr nicht ganz so deutlich, aber lassen wir das für den Augenblick), nicht nur schwarz, sondern ... sogar ein ehemaliger politischer Gefangener.

Die weißen Mitglieder des Verwaltungsrats verstehen gar nicht, warum solch vorgeblicher Radikalismus all denen nicht ganz so radikal erscheint, die sehr gut wissen, warum Robben Island überhaupt existierte und warum es so lange existierte – darin zeigt sich das Ausmaß der Kluft, die die entgegengesetzten Lager trennt. Nachdem sich die Leitung erst einmal zur eigenen Zufriedenheit – wenn schon nicht zu der anderer – moralisch aufs hohe Roß gesetzt hat, kann sie zudem anführen, ihre Position entspreche schließlich den Bestimmungen sowohl der südafrikanischen Verfassung wie des Universitätsgesetzes; wobei dieser Rückzug auf den Buchstaben des Gesetzes – ein Kunstgriff, der aus der alten Ordnung nur allzu vertraut ist – kaum weniger unehrlich ist als das Argument, man dürfe den Forderungen der Studenten nicht nachgeben, um keinen gefährlichen Präzedenzfall zu schaffen.

Was für die Universitäten gilt, gilt auch in der Gesellschaft insgesamt. Es ist ja durchaus wahr, daß Schwarze überall leben können, wo es ihnen gefällt, ebenso stimmt es, daß manche Schwarze – Regierungsmitglieder vielleicht, oder die Glücklichen, die in die Vorstände multinationaler Firmen berufen wurden – Häuser in den exklusiven Vororten Johannesburgs und Pretorias und Kapstadts erworben haben. Doch den weiterhin gültigen Strukturen, nach denen die meisten Schwarzen auch weiterhin in den Townships leben, weil sie sich einen anderen Wohnort nicht leisten können, läßt sich wohl kaum mit dem Hinweis auf die Garantien der neuen Verfassung begegnen. Die Berufung auf diesen Legalismus wäre im Gegenteil viel eher dazu geeignet, Unruhen in den Townships auszulösen – weshalb die Politiker, besonders die weißen, derzeit auf Forderungen nach grundlegenden Änderungen weitaus vorsichtiger reagieren als die Machthaber in den Universitätsleitungen.

Außerdem haben die Strukturen eine viel allgemeinere Geltung, als man aufgrund der radikalen Veränderungen im Lande vermuten könnte. Zumindest in der Theorie genießt seit der Umwandlung einer geschlossenen, autoritären Gesellschaft in eine offene und demokratische jeder einzelne die Freiheit, zu gehen, wohin er möchte, und zu leben, wo er will. In der Praxis jedoch kommt außer den „extremistischen“ und daher irregeleiteten Minderheitsgruppen niemand ernsthaft auf die Idee, die umfassende Neuverteilung des Reichtums vorzuschlagen, weil das System, das der vormals kommunistische ANC übernommen habe, von Grund auf ungerecht sei. Das würde außerdem dem Verdacht Vorschub leisten, der ANC sei nur deshalb an die Macht gekommen, weil den Begünstigten der alten Ordnung glaubhaft versichert wurde, ihre überkommenen Privilegien blieben auch weiterhin garantiert.

Jedenfalls braucht man sich nur das Chaos anzusehen, das der Rest des Kontinents auf seine Befreiung folgen ließ, um vor den Exzessen zu warnen, die Südafrika zu einem weiteren afrikanischen Krüppel machen würden. Es dürfte wohl ebenso viele Kommentatoren wie Ideen geben, die zu erklären versuchen, warum Afrika bei dem Versuch scheitern mußte, über dreißig Jahre nach der Unabhängigkeit in eine moderne Beziehung zum Jahrhundert einzutreten; aber der durchschnittliche Südafrikaner (schwarz, weiß oder dazwischen), der die düstere Weite nördlich des Limpopo betrachtet, muß sich fragen, ob es nicht besser sei, die Dinge genau so zu belassen, wie sie sind, weil das Land immerhin arbeitet – dafür spricht auch die Zahl der Wirtschaftsflüchtlinge, die zum Putzen und zur Arbeit in den Bergwerken bereit sind.

„Warum bringen die Schwarzen alles durcheinander?“ fragte mich ein farbiger Taxifahrer auf der Fahrt zum Flughafen, als ich zurück nach Nigeria fliegen wollte, wo die Militärregierung derzeit jeden einsperrt, der es wagt, ihre Legitimität in Zweifel zu ziehen. Ein Farbiger mußte aussprechen, was (fast) jeder dachte, gerade weil er farbig war – also weder schwarz noch weiß, sondern etwas von beidem. Und er sagte es, ohne daß ein bestimmtes Programm dahinter gestanden hätte. Fünf Minuten später, während ich mich noch in Wenns und Abers erging und nicht einmal mich selbst zu überzeugen vermochte, hupte er einen Schwarzen an, der neben uns an einer Ampel hielt. „Mein Freund“, sagte er mit echter Freude. Jedes Wochenende, so stellte sich heraus, gingen sie gemeinsam angeln.

Was die anhaltenden Unruhen an den Universitäten betrifft, so wäre es ehrlicher gewesen, die Mitglieder der Verwaltungsräte hätten offen gesagt, daß sie in Wirklichkeit den Verfall der Standards befürchten, wie er überall sonst der „Afrikanisierung“ folgte; aber das konnten sie natürlich kaum öffentlich zugeben, höchstens privat. Den Studenten selbst ist das durchaus klar, aber die Auswirkungen bereiten ihnen auch Unbehagen. Eben deshalb reizen sie die Leitungen auch weiterhin und ist das Problem letzten Endes so schwer zu lösen. Wenn die Universitäten wirklich ein Mikrokosmos der Gesamtgesellschaft sind, bedarf es kaum einer Kristallkugel, um die Zukunft des Landes pessimistisch einzuschätzen. Willkommen im neuen Südafrika.

Der Autor ist britischer Schriftsteller, Essayist, Herausgeber afrikanischer Literatur und Afrika-Experte von „Index on Censorship“. Seit zwei Jahren bereist er intensiv den Süden und Westen Afrikas.