Sekundenbruchteile des Ausschreitens

Von der sozialen Revolte über die Steigerung von Gebärfreudigkeit zum Muß von Muskeln in Maßen: Eine Buch von Manuela Müller-Windisch zeichnet die Geschichte von sporttreibenden Frauen nach  ■ Von Claudia Thomsen

Sicher, das Credo „Ohne Rock – keine Liebe“, welches der Viktorianer Hugh Nisbet vor 100 Jahren in die „Hosenbeinkontroverse“ warf, wirkt heute ein wenig überzogen. Die Gnadenlosigkeit jedoch, mit der Steffi Graf, um Deos und Nudeln bewerben zu können, auf „Zärtliche Cousine“ getrimmt wird, oder der derzeit geführte Diskurs ums Frauenboxen offenbaren: Noch auf der Schwelle ins 21. Jahrhundert scheint unklar, wann eine Frau anfängt beziehungsweise aufhört, Frau zu sein. Besonders der Sport gilt als Parkett, auf dem Frauen Gefahr laufen, in den unprickelnden Zustand Mann überzugehen.

Revolting Women

Weil derlei Mythen eben nicht passé sind, lohnt die Befassung mit dem Viktorianischen Zeitalter. Denn gerade zur Blütezeit von Patriarchat und Chauvinismus, quasi im tiefsten Scarlett O'Hara, begannen die ersten starken Vertreterinnen des schwachen Geschlechts, sich sportlich zu regen, und wurden als Revolting Women, als Antifrauen verunglimpft. Manuela Müller-Windisch spürt den Anfängen des Frauensports im England des 19. Jahrhunderts nach und unternimmt den „Versuch der Rückeroberung eines im allgemeinen Bewußtsein männlich besetzten kulturhistorischen Terrains für die Geschichte der Frauenbewegung“.

Der Streifzug durch 17 Sportarten, das Spektrum reicht von Angeln, Cricket und Fechten bis Rudern, Tennis und Wandern, vermittelt en détail, wie hoch die zu überwindenden Hürden für Frauen waren, die „Sekundenbruchteile des Ausschreitens“ wagen wollten. Keine Strategie schien zu perfide, kein Argument zu peinlich, um die Viktoriana aus dem Revier des Sportsheroen zu jagen. Die Mediziner beispielsweise attestierten den Frauen bei sportlicher Betätigung Nettigkeiten wie „sekundäre Verknöcherung“, „krebsgefährdete Rückbildung der Milchdrüsen“ oder die „amazonenhafte Verrohung von Stimme und Teint“ (durchs Reiten!).

Im naturwissenschaftgläubigen 19. Jahrhundert zu Aposteln von Ordnung und Etikette avanciert, hatten Mediziner bei der Stilisierung der sporttreibenden Frau zur „geschlechtslosen Amazone“ auch den Erhalt ihres Berufsstandes im Sinn: Denn die sporttreibenden vornehmen Damen, ihre einträglichsten Patientinnen, gesundeten so intensiv, daß die ärztliche Betreuung zusehends obsolet zu werden schien. Was verdeutlicht, wie stark die Sporty Women das starre Interessengeflecht viktorianischer Zeit zu zerstören drohten.

Disziplinierungsspektakel

Klarer noch weist Manuela Müller-Windisch die drohende Revolte anhand der Mode nach. Reichlich Geld wurde schließlich verdient mit fünf bis zehn Kilo schwerer Unterwäsche zum Erhalt des nötigen Rockvolumens, mit Krinoline, Fischbein- und Stahlkorsett. Reformversuche, wie das Mitte letzten Jahrhunderts kreierte Bloomer-Costume, ein aus heutiger Sicht immer noch überaus tuffig anmutendes Modell, wurden gezielt disqualifiziert. Besitzer von Brauereien und Modeläden steckten Barmädchen und Prostituierte in das Reformkostüm und machten sein Tragen unmöglich für jede, die seriös bleiben wollte. Und Seriosität war unverzichtbar für die Sportlerinnen, die vornehmlich aus niederem Landadel und begüterter Bourgeoisie stammten. Die Ladys frönten dem Sport zunächst in bewegungshemmender Alltagskleidung, was zur Konfliktvermeidung nicht genügte.

Wie also gingen Frauen, die nicht unbedingt revoltieren, sondern lediglich Ski fahren oder angeln wollten, mit einer Tätigkeit um, die an sich schon ein Fischen in verbotenen Gewässern darstellte? Wie ist es ihnen gelungen, der geforderten double conformity gerecht zu werden, der Kompatibilität von Lady und Sportsfrau? Nun, es galt den Sport seines revolutionären Potentials zu entledigen. Die Schulung von Ambition, spielerischem Temperament und Kreativität wurden ersetzt durch die Steigerung von Gebärfreudigkeit, Tüchtigkeit und Gesundheit durch den Sport. Nicht zufällig orientierten sich die Konzepte der ersten Sportlehrerinnen an denen der in Deutschland zu dieser Zeit populären Turnbewegung.

In deutschen Landen galt allein das Turnen als geeignet, neben dem Körper auch den Geist angemessen zu disziplinieren. Selbst der im Gegensatz zur nationalistischen Deutschen Turnerschaft (DT) fortschrittliche Arbeiter- Turnerbund (ATB, später ATSB) tat sich lange schwer mit der Anerkennung selbst des Männer-Fußballs, der, weil brutalisierend und konkurrenzfördernd, in Deutschland verpönt war. Die von den Nationalsozialisten zugespitzte Reduzierung des Sports auf ein Disziplinierungsspektakel wirkte so nachhaltig, daß noch die Frauenbewegung der 1970er Jahre den Sport als wenig hilfreich für die Emanzipation rechts liegenließ.

Dialektische Wende

Neben der Vorstellung von Pionierinnen in allen 17 untersuchten Sportarten, Frauen wie Isabelle Bird Bishop, die mit 42 Jahren Gipfel in den Rocky Mountains bestieg und noch über 70jährig einen Eintausend-Meilen-Ritt quer durch Marokko unternahm, belegt die Autorin, wie lange der viktorianische Chauvinismus am Leben gehalten wurde. In englischen Alpenvereinen beispielsweise hatten Bergsteigerinnen bis 1975 nichts zu suchen und im Wimbledon-Turnier veranstaltenden All-England Tennis Club hatten weibliche Mitglieder bis 1982 kein volles Mitspracherecht – alles natürlich in den Statuten verankert.

Erstaunlicherweise waren es nicht derartige Verbote, die zur maßgeblichen Schwächung des Frauensports beitrugen. Wesentlichere Bedeutung hat die sich um die Jahrhundertwende etablierende Sport- und Schönheitsindustrie. Denn Kosmetika wurden nötig, um die Auswirkungen von Wind und Wetter auf die Schönheit der Sportlerinnen in Grenzen zu halten. Heute markieren zahllose „Für Sie“-Sportarten die dialektische Wende des Frauensports. Vom Instrument zur Überwindung überkommener Rollenklischees wandelte sich das sportive Tun recht fix zum vielversprechenden Werkzeug, das die Frauen in das gängige Schönheitsideal einzupassen verspricht. Sind nicht spätestens seit Madonna Muskeln in Maßen ein Muß für jede attraktive Frau? Nachdenklich geworden, fragt sich die kritische Leserin, was denn das trendige shaping und building des weiblichen body letztlich anderes sei als eine Art prophylaktische Light-Korsettierung? Wo sind die Revolting Women im heutigen Frauensport?

Manuela Müller-Windisch: „Aufgeschnürt und außer Atem. Die Anfänge des Frauensports im viktorianischen Zeitalter“. Campus Verlag, New York, Frankfurt/ M. 1995