Theoretisch ist bei der Polizei alles paletti

■ Polizeipräsident Saberschinsky über Rechtsradikalismus: „Gruppendynamik unter Alkohol“ / amnesty-Berichte über Mißhandlungen durch Polizisten „längst bekannt“

Als Polizeipräsident Hagen Saberschinsky vor kurzem eine Ausstellung über den Wachtmeister Wilhelm Krützfeld eröffnete, der im Jahr 1938 mit seinem mutigen Einsatz die Zerstörung der Neuen Synagoge während der „Reichskristallnacht“ verhinderte, demonstrierte er historisches Bewußtsein. Krützfeld sei ein Vorbild für jeden Polizisten. Wenn alle so gehandelt hätten wie er, meinte Saberschinsky, wäre uns das „düsterste Kapitel deutscher Geschichte erspart geblieben“.

Theoretisch, das bewies Hagen Saberschinsky auch am Donnerstag in einem Vortrag über „Erscheinungsformen des Rechtsradikalismus und Antisemitismus in Berlin“ vor der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, weiß man 50 Jahre nach Hitler genau Bescheid, wie es hätte gehen müssen. Theoretisch ist in Berlin auch alles paletti, denn die Anzahl der rechtsextremen und fremdenfeindlichen Straftaten nehme in Berlin keinesweis überproportional zu, nach den Brandstiftungen auf die Synagoge in Lübeck habe es keine Nachahmungstaten in der Hauptstadt gegeben, und die Berliner Polizei habe eine erfolgreiche Konzeption bei der Bekämpfung rechtsextremistischer Gewalttaten. Immerhin, erklärte Saberschinsky, werden laut Polizeistatistik in Berlin 81,7 Prozent der fremdenfeindlichen Gewaltdelikte aufgeklärt. „Auch das“, so Saberschinsky, „ein Maßstab der geleisteten Arbeit.“ Von Saberschinsky erfahren wir auch, wie sich das genau verhält mit den fremdenfeindlichen Straftaten, die „nicht auf die Überwindung des freiheitlich demokratischen Systems abzielen, sondern aus einer diffusen rechten Haltung gegen das Opfer entstehen“ und sich oft „aus gruppendynamischen Prozessen und unter Alkoholeinfluß“ entwickeln. „Solchen Leuten“, teilt uns Saberschinsky mit, „darf man keinen zu hohen und ausgeweiteten Horizont zumuten.“

Nur davon, daß einige seiner Beamten es nicht so ernst nehmen mit der Vorbildfunktion des tapferen Wachtmeisters Krützfeld, daß es wohl auch bei der Berliner Polizei einige „gruppendynamische Prozesse“ gibt, die als Mißhandlungen von Ausländern durch Berliner Polizeibeamte im Jahrbuch von amnesty international aufgeführt werden, daß es den betreffenden Beamten dann vielleicht auch am „ausgeweiteten Horizont“ mangeln könnte, davon mag Saberschinsky partout nichts wissen. Das sei doch wieder so eine Fragestellung, fährt da der Polizeipräsident aus der Haut, die die Opfer (sprich Polizei) zu Tätern machen wolle – und verfährt nach der alten Strategie, lieber den Überbringer der schlechten Botschaft zu köpfen als sich unbequemen Wahrheiten zu stellen.

Nicht ansatzweise, meint Saberschinsky, wird der amnesty-Jahresbericht der Aufgabe einer wissenschaftlichen Untersuchung gerecht. Die von der Menschenrechtsorganisation aufgeführten Fälle seien doch alle schon längst bekannt, dafür habe man den Jahresbericht nicht gebraucht. Und überhaupt sei es (schon oder nur?) zu einer (immerhin) Verurteilung gekommen. Außerdem habe die Polizei ja nicht die Aufgabe, „gruppendynamische Prozesse aufzulösen, denn das ist ein gesellschaftliches Problem“.

Weil an dieser Stelle der Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft mahnt, Thema des Vortrages sei schließlich nicht die Polizei, sondern „Erscheinungsformen des Rechtsradikalismus“, lernten wir an diesem Abend zweierlei: Erstens wollen wir uns lieber hübsch theoretisch den Kopf über gesellschaftliche Probleme zerbrechen, den Werteverlust im Materialismus beklagen und über die Rolle der Erziehung philosophieren. Und zweitens, so meinte schon Karl Kraus, beginnt der Skandal dort, wo die Polizei ihm ein Ende macht. Sylke Tempel