Von der Scham gebannt

■ Courbet reizt, Leonard stört: Der Ursprung und seine Motivgeschichte

Man muß nur richtig hinsehen können – so eine Leitidee der Moderne, die den Schleier der Natur von allen Phänomenen wegreißen wollte. Sie kam in Zyklen wieder. Seit Courbets sehr direktem Blick aufs Geschlecht hat der „Ursprung der Welt“ Generationen von Künstlern, auch von Künstlerinnen, magisch angezogen. Bei George Grosz klaffen gezeichnete, kaltnadelradierte und in Öl gemalte Schamlippen ein Lebenswerk lang auseinander, Modigliani fertigte vom gleichen Anblick eifrig abstrakte Studien an; André Breton beschrieb in Gedichtform, was Picabia aus Zeitungsschnipseln collagierte, und selbst der Minimal-artist Robert Morris hat sich in den siebziger Jahren ein Dreieck aus Filz und roter Seide zusammengenäht. Ganze 20 Jahre mußte der Anarchist und Konzept-Künstler Marcel Duchamp sich an der „Alchemie“ der Frau abarbeiten und konnte erst 1968, kurz vor seinem Tod, das berühmte „Etants Donnés“ fertigstellen – eine Tür mit Guckloch, dahinter in fahlem Licht eine kopflose Puppe mit gespreizten Schenkeln, von Stroh und einem surrealen Naturpanorama umgeben. Die Welt war clair und obscure zugleich.

Daß das Geschlecht wesentlich mit Wahrnehmung zu tun hat, haben nicht nur vor der weiblichen Scham gebannte Männer entdeckt. Spätestens im feministischen Diskurs der neunziger Jahre nutzen auch Künstlerinnen das einst als skandalös empfundene Bild. Nur stellen sie in Frage, was eigentlich der Skandal ist: Der Gegenstand, der Blick auf den Gegenstand oder nicht doch der Blick selbst?

Die US-amerikanische Künstlerin Judith Weinperson ließ ihre eigene abfotografierte Vagina auf sechs Meter hochkopieren und stellte dem überdimensionalen Wandbild aus kaum zusammenhängenden Rasterpunkten den kohlenschwarzen Abguß eines Haushalts-Mülleimers als schrumpeligen Gummi-Penis zur Seite. Im Museum machte der Zeichen-Stift keine gute Figur neben dieser monströsen Weiblichkeit, wenn man sie in ihrer vollen Größe überhaupt wahrgenommen hatte.

Erst zur letzten Documenta sorgte eine weitere Arbeit am Geschlecht für Furore. Die US-amerikanische Act-up-Aktivistin und lesbische Performance-Künstlerin Zoe Leonard hatte sich für die Neue Galerie in Kassel eine Provokation ausgedacht, die wie ein Teenager-Scherz daherkam. In die Sammlung mit Rokoko-Porträts kurhessischer Fürstinnen hatte sie Fotos von mehr oder minder kraus behaarten Scheiden gehängt. Mösen im Kabinett, nüchtern und teilnahmslos abgebildet. Von Erregung oder Pornografie war hier nichts mehr zu spüren. Die Nacktheit war tatsächlich unverhüllt – ohne allerdings etwas anderes bedeuten zu wollen, und damit doch meilenweit von der Ursprungs- Idee der Welt, wenn nicht der Moderne entfernt. Man sah nur, wie Weltbilder auseinanderfielen: hier die in ihrer Rolle als Frau buchstäblich eingeschnürten Damen vom Hofe, dort das objektiv dargestellte Geschlecht, ohne weitere Eigenschaften oder soziale Festlegungen. Gleichgültigkeit statt Gleichberechtigung? Wer darf so schauen? Als es am 16. 9. 92 auf den Kulturseiten der taz zu sehen war, kommentierte eine Leserin wütend: „Plumpes Einseifgelaber für den schlichten geilen Schocker“. Harald Fricke