Urninge und Dioninge

Keine Angst vor dem Coming-out: Über Karl Heinrich Ulrichs, den Pionier der Schwulenbewegung  ■ Von Elmar Kraushaar

Der Mann hat Mut. Da steht er am Rednerpult im großen Saal des Münchner „Odeons“, mehr als 500 Juristen vor sich, und fordert gleiche Rechte für die Schwulen im Land. Kaum hat er seine Rede begonnen, geht das Geraune los bis hin zu lautstarken Protesten. „Schluß!“ rufen die einen, „fortfahren!“ die anderen. Bis der Versammlungsleiter den Redner auffordert, seinen Beitrag auf lateinisch fortzusetzen. Das lehnt der ab, verläßt die Tribüne, um den Tumulten ein Ende zu bereiten: „Ich verhielt mich nur noch passiv.“

Was so aktuell erscheint, ist doch eine alte Geschichte und fand statt auf dem Deutschen Juristentag am 29. August 1867. Der Mutige heißt Karl Heinrich Ulrichs, ist Amtsassessor a.D. und einer von denen, für die er moralische und juristische Gleichheit einklagt. „Ja, ich bin stolz, daß ich die Kraft fand, der Hydra der öffentlichen Verachtung einen ersten Lanzenstoß in die Weichen zu versetzen“, beschreibt Ulrichs ein Jahr später seinen Auftritt ganz pathetisch, und das mit Recht, denn keiner vor ihm hatte es je gewagt, die Geheimnisse um „das Naturräthsel der mannmännlichen Liebe“ öffentlich anzusprechen.

Sein Coming-out hat er zu der Zeit aber schon hinter sich, ganz en famille und mittels eines Briefes, den er 1862 an seine Schwester schreibt mit der Bitte um „gefällige Zirkulation“ im Verwandtenkreis. Darin steht es unmißverständlich schwarz auf weiß: „Der liebe Gott hat mir die Liebe in derselben Richtung gegeben, in der er sie den Weibern giebt, d.i. auf Männer gerichtet.“

Aber woher nimmt einer die Kraft, sich so offen und selbstbewußt zu zeigen und etwas zu behaupten, das so verfemt ist, daß es nicht einmal einen Namen hat? Ulrichs ist ein kluger Mann. Geboren am 28. August 1825 auf Gut Westerfeld bei Aurich in Ostfriesland, studiert er zunächst in Göttingen und Berlin Jura, ist bis 1854 in Hannover als Amtsassessor tätig und setzt schließlich in Frankfurt am Main seine Studien fort, diesmal zur Poetik, zur germanischen Mythologie und zum öffentlichen Recht. In dieser Zeit, von 1863 bis 1865, beginnt seine rege Publikationstätigkeit, zunächst unter dem Pseudonym „Numa Numantius“.

In Ulrichs Schriften geht es immer nur um das eine: die „mannmännliche Liebe“. Mit Akribie und ganz ohne Vorbild sucht er sich zu erklären, was er am besten kennt von sich selbst. Denn daß er anders ist als die anderen, verspürt er schon sehr früh mit fünfzehn Jahren. In dem Brief an seine Schwester schildert er seine Begegnung auf einem Ball mit „zwölf jungen, schön gewachsenen und schön uniformierten Forstschülern“: „Ich hätte ihnen sofort um den Hals fallen mögen.“

Was ihn antreibt in seinen Gefühlen, kann nur Natur sein, keine Verführung, keine Krankheit und kein Verbrechen, davon ist Ulrichs zutiefst überzeugt von Beginn an. Jetzt gilt es nur noch, die Beweise dafür zu finden. Zuerst geht er bei seinem Begehren für andere Männer von einem „passiven animalischen Magnetismus“ aus, einer magnetischen Kraft, die schon andere vor ihm im 18.Jahrhundert meinten, entdeckt zu haben. Durch die Lektüre der zeitgenössischen Literatur zum Phänomen des Hermaphroditismus aber gelangt er zu neuen Erkenntnissen: „Die Natur ist es, die einer zahlreichen Classe von Menschen neben männlichem Körperbau weibliche Geschlechtsliebe giebt, d.i. geschlechtliche Hinneigung zu Männern, geschlechtlichen Horror vor Weibern.“ Da er eine eigene „Classe“ annimmt, muß es auch einen eigenen Namen für sie geben, und fortan nennt Ulrichs sich und die seinen „Urninge“, die Heterosexuellen im Gegensatz dazu „Dioninge“, beides Abwandlungen der Götternamen Uranus und Dione aus Platos „Gastmahl“. Mit dem neuen Namen erschafft er etwas bislang Einzigartiges, den „Urning“ als neue Figur der Sexualität, ganz eigenständig und deutlich abgegrenzt von der bisherigen Annahme, daß es bei gewöhnlichen Männern oder Frauen hin und wieder auch zu einem gleichgeschlechtlichen Begehren kommen könne.

Ganz seinem Bestreben folgend, den „Urning“ und sein weibliches Pendant, die „Urningin“, „Uranierin“ oder „Urnin“, zu befreien von rechtlicher und sozialer Verurteilung, will er die Natur der eigenen „Classe“ naturwissenschaftlich begründen. Denn wenn einmal etwas begriffen ist als von der Natur gegeben, so kann es nicht mehr ausgegrenzt und bestraft werden und findet seinen gleichberechtigten Platz neben den anderen Erscheinungen einer natürlichen Sexualität. So geht er von einem „Keim“ im menschlichen Körper aus, der die männliche oder weibliche Ausgestaltung der Sexualorgane steuert. Und wenn der Geschlechtstrieb nicht mit den Sexualorganen übereinstimmt, muß es einen zweiten „Keim“ geben, der die Richtung des Geschlechtstriebs bestimmt: „Im nachmaligen Urning also entwickelt sich der im Embryo schlummernde Keim der Geschlechtsliebe in weiblicher Richtung, nicht correspondierend mit der Entwicklung, die der Keim der Geschlechtstheile nimmt.“

Daraus folgert Ulrichs ein „drittes Geschlecht“, das Geschlecht der Männer, die nur Männer „spielen“, von ihrer „ganzen Gemüthsart“ her aber „entschieden weiblich“ sind. Daß dem so sein muß, entdeckt er an sich selbst und den anderen „Urningen“, die er kennt. Da sieht er die „männlichen Manieren“, die nur „künstlich anerzogen“ sind, und beobachtet die „gewisse Weichheit des Charakters“, „in der Art, wie wir Freude, Schmerz, Mitleid, Rührung etc. kundgeben“. Die Idee von der weiblichen Seele im männlichen Körper führt ihn zunächst aber auch zu der Überzeugung, daß ein „Urning“ keinen anderen „Urning“ lieben könne, sondern nur den „richtigen“ Mann. Erst im Laufe der Jahre, nachdem er viele voneinander verschiedene „Urninge“ kennengelernt hat, gelingt es ihm zu differenzieren, und in seiner Schrift „Memnon“ von 1868 legt er seine erweiterte Theorie zur Homosexualität fest.

In all seinen Arbeiten*, die später auch unter seinem richtigen Namen erschienen, bemüht er sich um Aufklärung. Da entwirft er Zahlenspiele, um nachzuweisen, wie viele „Urninge“ tatsächlich hier und da leben. „Etwa 500 - 1.000“ sollen es in Berlin sein, „etwa 1.000“ in Wien, in Deutschland „etwa 2.500“, um sich schließlich auf einen Mittelwert zu einigen, wonach in Deutschland „unter 500 erwachsenen Männern durchschnittlich 1 erwachsener Urning“ lebt.

Auch bezieht Ulrichs damals schon zu dem scheinbar so aktuellen Thema der „Homo-Ehe“ ganz entschieden Position: „Das positive Institut der Ehe ist kein Institut für uns. Weder einen Priester giebt es, noch einen Civilstandsbeamten, der ein Eheband knüpfe zwischen uns und unserem Geliebten. [...] Für uns kann die Ehe nicht die Vorbedingung sein des moralischen Erlaubtseins der Liebesbefriedigung.“

Ulrichs selbst stößt mit seiner Offenheit immer wieder an Grenzen, nicht nur in seiner Familie und auch nicht nur auf dem Juristentag. Schon 1854 verläßt er den Justizdienst, um damit einem Disziplinarverfahren wegen seiner Homosexualität zuvorzukommen. Und als er 1865 aus der Wissenschaftsvereinigung „Freies Deutsches Hochstift“ (F.D.H.) ausgeschlossen wird, schlägt man ihn mit seinen eigenen Waffen: „[...] und da derselbe erklärt, selber zu diesen [Urningen, E.K.] zu gehören, so sei wohl zu beachten, daß die Satzungen des F.D.H. von einer Zulässigkeit der Mitgliedschaft dieser Wesen keine Erwähnung thun und die Verwaltung den Herrn Ulrichs somit nicht als zur Mitgliedschaft berechtigt ansehen könne.“

1880 schließlich verläßt Ulrichs Deutschland und geht nach Italien. In Aquila in den Abruzzen verdient er sich seinen Lebensunterhalt als Sprachlehrer und gibt eine Zeitschrift in lateinischer Sprache heraus. Als er am 14. Juli 1895 an einer Nierenentzündung stirbt, wird er in Aquila neben dem Familiengrab seines italienischen Förderers, des Marquis Niccolò Persichetti, beigesetzt.

Einen Traum hat Ulrichs sich zeit seines Lebens nicht verwirklichen können, den des Zusammenschlusses seiner „Classe“. Zwar entwirft er 1865 schon „Satzungen für den Urningsbund“, doch erlebt er nicht mehr das, was wir heute Schwulenbewegung nennen. Ein Jahr nach Ulrichs' Tod, als sich in Berlin das „Wissenschaftlich-humanitäre Komitee“ unter Führung von Magnus Hirschfeld gründet, erinnert man sich seiner Vorarbeiten und gibt seine gesammelten Schriften neu heraus, nicht ohne ihn zu rühmen als „großen opfermutigen Vorkämpfer für die Befreiung der gleichgeschlechtlich Liebenden von gesetzlicher Verfolgung und gesellschaftlicher Ächtung“.

Und weitere 99 Jahre müssen vergehen, bis sich die Schwulenbewegung der Neuzeit ihrer Geschichte annimmt und bereit ist, ihrem Urvater die gebührende Ehre zu erweisen. Die Anregung dazu kommt aus den USA. Michael Lombardi und Paul Nash, die Übersetzer der amerikanischen Ausgabe der Werke Ulrichs', wenden sich weltweit an alle Organisatoren der Christopher Street Day- Feiern mit der Anregung, den Christopher Street Day (CSD) im Jahre seines hundertsten Todestages dem Gedenken an Karl Heinrich Ulrichs zu widmen: „Demonstrate to the world we have a long and proud history.“

Dieses Datum nehmen auch Schwulengruppen in München und Göttingen zum Anlaß, in ihren Städten Gedenk- und Erinnerungstafeln für den schwulen Vorkämpfer zu fordern. Die Anträge dazu sind eingegangen, die Antworten von entscheidender Stelle blieben bislang aus.

Dabei hat Karl Heinrich Ulrichs alle Ehre verdient. Ob sie von seiten der „Dioninge“ kommen muß, bleibt dahingestellt. Denn zu allererst sind es die Angehörigen seiner „Classe“, die seine Leistung ermessen können. Quasi als erster Schwuler steht er da und hat ganz bewußt alle Stationen durchlaufen, die heute zum Repertoire einer schwulen Sozialisation gehören: vom ersten Gewahrwerden der Gefühle, die dann zu besonderen werden und einer Erklärung bedürfen, die man suchen muß, auf sich allein gestellt; von den pubertären Gehversuchen – Coming-out genannt – im Kreise der nächsten Freunde und der Familie, mit allen Enttäuschungen und Zurückweisungen; von der Sehnsucht, nicht allein dazustehen, sondern gleich zu sein in einem Kollektiv von Gleichen; von dem ständigen Wechselspiel zwischen den eigenen Wünschen und den Anforderungen einer Gesellschaft, die einem grundsätzlich nicht wohlgesonnen ist; von dem beständigen Kampf um Anerkennung und Respekt. Niemand vor Ulrichs hat so ausführlich und klar davon Zeugnis gegeben, und keiner – erstaunlich genug – nach ihm. Da war tatsächlich ein Pionier am Werk, der bis heute ohne Beispiel geblieben ist.

* Karl Heinrich Ulrichs: Forschungen über das Rätsel der mannmännlichen Liebe. Hg. von Hubert Kennedy, Verlag rosa Winkel, Berlin 1994, vier Bände, zusammen 98 Mark