Ja, wollen wir denn richten?

Verwirrung in Marburg: Ekkehard Dennewitz, Intendant des dortigen Stadttheaters (und gar kein schlechter), war zwischen 1975 und 1988 Stasi-Informant. Was tun jetzt mit „Ekke“? Zumal Marburg linksliberal ist und der Osten weit?  ■ Von Richard Laufner

„Wenn Marburg meint, sich einen Stasi-IM als Intendanten leisten zu können, dann soll es das tun“, erklärt Gabriele Kriese achselzuckend. Daß es beim Umgang mit solchen IM im vereinten Deutschland ein geteiltes Recht gebe, hatte im März schon ihr Mann in einem Brief an den Marburger Kulturdezernenten moniert. Die beiden Schweriner hatten in ihren Gauck-Unterlagen unter den auf sie angesetzten zwölf Inoffiziellen Mitarbeitern auch „IM Bergner“ alias Ekkehard Dennewitz gefunden. Und der gebürtige Leipziger ist nach Theaterstationen in Rostock, Cottbus, Dresden, Neustrelitz und Plauen wenige Wochen vor der deutschen Vereinigung zum Marburger Intendanten gekürt worden.

Ein erfolgreicher übrigens. Bis auf einige Piscator-Inszenierungen in den fünfziger Jahren hatte das Einspartentheater in seiner genau 50jährigen Historie für wenig Schlagzeilen gesorgt. Für die Universitätsstadt war das Theater mit knappem 3,5-Millionen-Etat und 20köpfigem Ensemble kaum mehr als ein „weicher Standortfaktor“. Ost-West-Transfer Ekkehard Dennewitz sorgte seit 1991 mit solidem, bisweilen originellem Theater für frischen Wind. Die Abozahlen stiegen und mit seiner jovial- kameradschaftlichen Art baute „Ekke“ selbst bei der freien Theaterszene Vorbehalte ab.

Der Brief aus Schwerin Anfang März mit Hinweis auf die obskure Vergangenheit des Intendanten paßte gar nicht in das Jubiläumsjahr. Wer mochte schon von Stasi- Betroffenen hören? Ostern 1982 in Neustrelitz hatte der zwölfjährige Kriese-Sohn Sascha gewagt, auf eine Mülltonne mit weißer Farbe zu pinseln: „Frieden schaffen ohne Waffen.“ In der Schnüffelhysterie der darauffolgenden Wochen hatte Dennewitz, Oberspielleiter am dortigen Friedrich-Wolf-Theater, als „IM Bergner“ seinem Stasi- Offizier drei Berichte mit diskriminierenden Wertungen und teilweise sehr privaten Behauptungen auf Band diktiert: nicht nur über den Schauspieler Klaus, sondern auch seine am Theater gar nicht tätige Ehefrau. Für Gabriele Kriese, heute Ministerialdirigentin beim Sozialministerium Mecklenburg- Vorpommern, eine „wichtigtuerische Vermischung von Dichtung, Wahrheit und gemeinen Lügen“. In den Jahren nach der österlichen Pinselei des Sohnes folgte eine Stasi-Kampagne gegen die ganze Familie: Verweigerung einer Anstellung Gabriele Krieses an der Hochschule, Ablehnung der theaterwissenschaftlichen Diplomarbeit ihres Mannes und der Versuch, durch Gerüchte die Ehe zu zerstören.

In Brandenburg, Chemnitz und Halle mußten Intendanten nach Entdeckung ihrer IM-Tätigkeit den Hut nehmen, teilweise nach leidenschafltichen Diskussionen. Anders in Marburg/Deutschland- West: Intendant Dennewitz leugnete strikt eine Anwerbung als IM. Gerhard Pätzold (SPD), Aufsichtsrat der Theater GmbH, betonte die Glaubwürdigkeit des Angegriffenen. Der als Prüfinstanz der Gauck-Akten eingesetzte Marburger Ex-Justizminister und Stolpe-Berater Gerhard Jahn (SPD) nannte die im Kriese-Brief aufgeführte Enttarnung von „IM Bergner“ „nichtssagende Papierchen“. Öffentliches Echo: wenige Presseberichte, ein kurzes Pro und Contra in der Leserbriefspalte der Oberhessischen Presse – Ruhe.

Man ging zur Tagesordnung über. Zum Beispiel ins Theater. Deutsch-deutsches mit der heiteren Revue „Checkpoint Charlie“, Schuld und Vergebung beim frömmelnd inszenierten „Jedermann“, Nachdenkliches über Machtmißbrauch bei „Maria Stuart“. Eine produktive Bearbeitung des durch den Brief so plötzlich auf die Tagesordnung gesetzten deutsch- deutschen Dramas? Fehlanzeige.

Konfliktscheu des traditionellen Premierenpublikums – mag sein. Aber wo waren die hartnäckig-professoralen Aufkärer von einst, die Lehrer und Uniangehörigen, die in Marburg der DKP noch im März '89 zum Sprung über die kommunale Fünfprozenthürde verhalfen? In linksliberalen Kreisen immer wieder nur die erkenntnisfaule Frage: „Wollen wir denn richten?“

Uta Dennewitz, Frau des Intendanten, fühlte sich gar zur Offensive für den bedrohten Marburger Theaterfrieden motiviert: Die Schauspielerin schrieb an Stasi-Betroffene Gabriele Kriese einen Brief, in dem sie sich gegen deren „Denunziation“ verwahrte. „Das sind für mich genau die Stasimethoden, die Sie angeblich anprangern. Falls Sie es noch nicht bemerkt haben, leben wir jetzt in einer Demokratie.“

Derweil stellte die Gauck-Behörde die Akte Dennewitz zusammen. Aber wollte sie überhaupt jemand sehen? Schon seit Ende April liegen die 140seitigen Unterlagen bei den Marburger Kulturverantwortlichen. Doch die lassen sich mit ihrem Urteil Zeit. Weil die Unterlagen nicht ausreichend seien, hat man weitere angefordert.

Reine Verzögerungsstrategie, denn die auf Antrag nun presseöffentlichen Gauck-Materialien sind eindeutig: Danach hat Dennewitz zwischen 1975 und 1988 mit größeren Unterbrechungen für die Stasi gearbeitet. Er diktierte IM-Spitzelberichte über Beschäftigte am Theater, deren Familien, über interne Machtkämpfe, „Republikflüchtlinge“, angebliche außereheliche „Verhältnisse“, Inszenierungen und Vorführungen, über Studenten an der Schauspielschule Berlin und Oberspielleiter aus der gesamten DDR.

Als Regisseur am Bezirkstheater Cottbus ließ sich Dennewitz 1976 unter dem Decknamen „Ekke“ erstmals für die Stasi verpflichten, um die unbotmäßige Theaterszene auszukundschaften. In Neustrelitz folgte sechs Jahre später – wieder in einem Stasi-Pkw – eine zweite, diesmal schriftliche Verpflichtung: „Ich erkläre mich bereit, das MfS bei seiner verantwortungsvollen Tätigkeit auf freiwilliger Grundlage zu unterstützen.“ Die Stasi schätzte die Kontaktgespräche als „effektiv und operativ nutzbar“, die Einhaltung der Konspiration, seine Bereitschaft zu Schulungen sowie den „Elan und Eifer“, mit denen er operative Aufträge erfülle.

Nach der strikten Leugnung und den Präzedenzfällen in Deutschland-Ost „nicht ausreichend“? Das diesjährige Spielplanplakat des Schauspiels verkündet in großen Lettern: „Gegen Machtmißbrauch, Heuchelei, Neofaschismus und Bosheit – wir stehen zu unserem Programm.“ Vielleicht will man sich in Marburg bei soviel political correctness einfach ein bißchen Unkorrektheit leisten. In jedem Fall wurde der Intendantenvertrag trotz Stasi-Vorwurf um weitere fünf Jahre verlängert.