Vorschlag

■ Den Bahnhof verstehen: Karsten Krampitz liest im „Krähenfuß“

Karsten Krampitz redet nicht von Straßen, er redet von Zügen. Dort, wo andere nur Bahnhof verstehen, versucht er, den Bahnhof zu verstehen – und nicht den Mythos „Straße“. Der 25jährige Berliner Autor, der zur Zeit sein Abitur nachmacht, seine Brötchen als Betreuer in einer Treptower Wärmestube verdient und bei der Obdachlosenzeitung Motz mitarbeitet, gehört zu den SchriftstellerInnen, die nicht versuchen, ihr Schreiben auf den aktuellen Stand der Literaturtheorie zu bringen. Ihm geht es darum, einfache Geschichten zu erzählen, die das, was man so Leben nennt, schrieb. So ist denn auch seine Laufbahn eher ungewöhnlich. Als staatlich geprüfter Statistiker und Betriebswirt erstellte er nach der Wende Statistiken zu Friedhöfen und Geschlechtskrankheiten für eine Treuhand-Abteilung und schrieb konsequenterweise nebenbei für die junge Welt eine Kolumne mit dem ansprechenden Titel „Kadaver im Aufbruch“. Aus diesen frühen Jahren datiert der seltsamste Steuerratgeber, den die Welt je sah: „Super Steuer“, eine Gemeinschaftsproduktion mit einer gewissen Renate, deren Name im Umfeld der alternativen Ostberliner Comicszene für Qualität bürgt.

Einige Zeit später erschien Krampitz' erstes literarisch zu nennendes Werk, „Mein Freund Judas und ich“, im Zyankrise Verlag, die langerwartete Neuauslegung des fünften Evangeliums. Geschrieben von einem, der dabei war, und gekonnt illustriert von dreien, die sich viel Mühe gaben, erzählt es, wie es wirklich war, damals. Am Donnerstag abend liest Krampitz aus seinem im September bei Zyankrise erscheinenden Band „Rattenherz“, der schon lange vor Drucklegung großzügig honoriert wurde: der Autor erhielt für seine Erzählung „Geisterfahrer“ den ersten Preis des 3. Berliner Jugendliteratur-Wettbewerbs und ein Stipendium der Stiftung Kulturfonds. Seine ungekünstelten Stories aus der Welt „jenseits der Mietverträge“ spielen in den Kreisen derer, die morgens nicht wissen, wo sie die Nacht überstehen werden. Ihr letzter Zug ist abgefahren, die Bahnhofsmission das Ziel. Krampitz wandert auf dem Grat zwischen Elendskult und Betroffenheitsjauche, wobei er keinesfalls in die Social-Beat- Ecke gedrängt werden will. Obwohl Krampitz kaum als großer Stilist in die Literaturgeschichte eingehen wird, sind seine Texte allemal ein probates Gegengift zur neuen Schnöseligkeit eines Christian Kracht („Faserland“). Gunnar Lützow

Karsten Krampitz liest morgen, 22.6., 20 Uhr, im „Krähenfuß“, Hauptgebäude der Humboldt-Uni, Unter den Linden, Mitte