■ Tour d'Europe
: Völkerwanderung

Ganze Länder hängen von ihm ab. Und ganze Nationen fühlen sich höchst unwohl, können sie nicht mindestens einmal jährlich zu jenen aufbrechen, die davon abhängen: Tourismus ist längst nicht mehr nur Ritual, sondern ein Wirtschaftsfaktor ersten Ranges. Gleichwohl herrscht im Gewerbe und bei seinen Experten keineswegs Klarheit über die jeweiligen Daten. Das beginnt schon bei der Definition: Franzosen und Italiener rechnen alles, was von 4 Tagen an ohne kommerzielles Interesse aufwärts geht, als Tourismus, deutsche Reiseveranstalter pendeln zwischen „verlängertem Wochenende“ und mindestens 7 Tagen zur Bezeichnung eines „echten“ Urlaubsminimums. Spanier und Griechen mogeln zur Aufbesserung der Statistik auch schon mal Wochenend-Spritztouren in den Tourismus hinein.

Gesichert ist, daß von den knapp 500 Millionen Europäern (ohne GUS) jährlich 200 Millionen zu einer Reise ohne kommerziellen Hintergrund aufbrechen. An der Spitze stehen die westlichen Länder, die Nummer eins unter ihnen ist Deutschland, von dem Reiseforscher gar glauben, daß mehr als die Hälfte aller Einwohner mindestens einmal im Jahr verreist; in der alten Bundesrepublik galt sogar die Zahl von 60 Prozent. Dabei sind freilich viele Fahrten eingerechnet, die sicherlich nicht unbedingt zum Tourismus gehören, etwa zu ausgedehnten Verwandtenbesuchen, Hochzeiten, Beerdigungen, was ja mitunter auch mehrere Tage in Anspruch nimmt.

Nicht mit solchen Statistiken beizukommen ist Ländern wie Frankreich und England, hier geben bei Umfragen viele „nein“ an, obwohl sie ausgiebig Urlaub machen – aber weder im Hotel noch in einer gemieteten Datsche oder im Urlaubsbus, sondern im eigenen Landhäuschen oder dem Bungalow der Familie am Meer. Für sie ist der Aufenthalt dort lediglich ein zeitweiliger Wohnungswechsel, kein Urlaub.

Abhängig vom Tourismus sind seit etwa vier Jahrzehnten nahezu alle Länder mit ausgedehnten Meeresküsten oder vielen Seen. Allerdings ist hier die Tendenz rückläufig, seit die Sonneneinstrahlung als schädlich für die Haut betrachtet wird. Italien zählt jedes Jahr mehr als 50 Millionen Urlaubs-Fremdlinge (davon jeweils zwischen 10 und 15 Millionen Deutsche), in besonderen Jahren (heiliges Jahr im Vatikan oder Sportgroßereignisse wie Weltmeisterschaften) auch schon mal 60 Millionen, mehr als das Land Einwohner zählt. Aber auch die skandinavischen Länder kommen in Spitzenjahren auf Quoten von mehr als der Hälfte ihrer Einwohnerzahl. Länder wie Frankreich oder Deutschland können sich zwar ihrerseits ansehnlicher Attraktionen rühmen, doch die meisten Urlauber, die sich hier sehen lassen, stammen aus dem eigenen Land. Allenfalls fernöstliche oder US-amerikanische Gruppen suchen diese Gegenden auf.Werner Raith