■ Im Nebel der revolutionären Utopie ist alles möglich, auch das, was nicht möglich ist. Ein Essay von Bogdan Bogdanović
: Träume, vor einen Ochsenkarren gespannt

Hat Lenin unter seinen vielen guten Ratschlägen die Revolutionäre wirklich aufgefordert, vorbehaltlos zu träumen und ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen? Ob das richtig war oder nicht, viele waren davon überzeugt, daß man ähnlich dem Ratschlag „Lernen, lernen, lernen“ von der höchsten Stelle empfohlen habe: „Träumt, träumt, träumt!“

Heute, nach siebenundsiebzig Jahren, deckt dieser altmodische Aufruf von selbst seine archaische Herkunft auf. Auch in den primitiven Gemeinschaften waren die Träume, unter dem wachen Blick der dörflichen Magier, das gemeinsame gesellschaftliche Gut. Nicht einmal ein gewöhnlicher menschlicher Traum gehört dem einzelnen. Er verpflichtete denjenigen, der träumt, er verpflichtete aber auch den im Traum Erschienenen, seine Familie und sogar seine Nachkommen...

Ein Umstand erklärt gewissermaßen den hohen Grad der Vergesellschaftung der Träume in den primitiven Gemeinschaften. Es bestand nämlich eine vielfältig verschlungene psychologische Beziehung zwischen der Seele und dem Traum, dem Traum und der Phantasie, der Phantasie und der Wirklichkeit. „Der Mann des Traums“ und „der Mann der Wirklichkeit“ decken sich oft auch im wachen Zustand beinahe vollkommen, so daß praktisch das, was wir heute eine Meinung, mit dem, was wir Träume nennen, gleichgesetzt wurde. Mit einer kleinen Ergänzung: Wenn ein einzelner oder eine Gemeinschaft „die Welt denkt“, handelt es sich um eine passive Beziehung; wenn er oder sie „die Welt träumt“, ist die Beziehung aktiv, und damit wären wir in der Nähe der pathetischen Kategorien der geistigen Bruderschaft Wladimir Ilitschs angelangt. Man solle die Welt nicht nur „denken“, sondern sie mit Hilfe der magischen Kraft des Traums auch ändern.

Im Gegenteil dazu, was man gewöhnlich glaubt, haben die elementaren Gesellschaften keinen großen Wert auf Prophezeiungen gelegt, sie haben aber dafür viel von der anspornenden Macht der Träume gehalten. Die Huronen haben vor einer entscheidenden Schlacht das gemeinsame Träumen praktiziert, für das sie sich lange vorbereitet und tagelang gefastet haben. Von dieser Verpflichtung wurde niemand ausgenommen, weder die Krieger noch die Pferde, noch die Hunde. Es handelte sich darum, gemeinsam, im voraus und bis ins kleinste Detail den Sieg zu erträumen.

Beinahe auf die gleiche Art waren auch die wachen Träume der Revolutionäre aktiv auf die Zukunft ausgerichtet und haben, genauso wie bei den Huronen, künftige Ereignisse beflügelt. In der letzten Konsequenz haben diese Träume zum „weltgeschichtlichen Sieg“ der klassenlosen Gesellschaft und zur erfolgreichen Vollendung des Turms von Babel beigetragen. Heute indessen, wo in vielen postkommunistischen und nationalkommunistischen Gemeinschaften der Turmbau der Welt durch die hektische Vollendung der kleinen, aber bis zum Himmel ragenden nationalen Türme und Festungen ersetzt wurde, haben sich die kollektiven Träume auf einmal trotzig der Vergangenheit und sogar der Vorvergangenheit zugewandt.

Dieses Paradox ist auffällig, aber nicht neu. Auch in den sehr elementaren Gemeinschaften konnte man, wenn es darauf ankam, in uralte Zeiten gelangen. Bei den australischen Stämmen hat eine ganze Serie von Synonymen etwas bezeichnet, das ungefähr „heilige Geschichte“ oder „Traum“ bedeutete. Heute könnte man das einfach Geschichte oder Mythos nennen. Durch die Landschaften der menschlichen Träume irren also seit Urzeiten die Schatten der Vorfahren und der Helden. In einem glücklichen Augenblick konnte man von ihnen im Traum Unterstützung, Hilfe oder wenigstens einen guten Rat erheischen.

In der heutigen Zeit vermittelt der Umgang mit den Schatten der Vorfahren, wie es scheint, das Gefühl der Zuversicht und des Stolzes. Im leichten Nebel der Träumerei ist selbst im wachen Zustand alles möglich, man kann alles erreichen, selbst das, was man auf keinen Fall erreichen kann. Aus der Vergangenheit springt man leicht in die Zukunft, und die Zukunft kann man nach dem Muster der veralteten Vorstellungen und Phantasmen unserer Vorfahren umformen. Denn „Die Schatten wissen mehr!“ ist der erste Grundsatz des primitiven Menschen, wenn er mit Dingen konfrontiert wird, die er nicht versteht. Der gleiche Grundsatz gilt auch für den modernen, genauer gesagt, postmodernen primitiven Menschen.

Einst haben Millionen von revolutionären Aktivisten wie auf Kommando geglaubt, daß man von der Zukunft „träumen“ müsse. Ihre Reisebeschreibungen aus der künftigen Welt wurden langsam, aber unaufhaltsam immer langweiliger. Heute erinnern wir uns mit Unbehagen daran. Und was wird aus unseren neu komponierten „Träumen der Vergangenheit“? Was für Reisebeschreibungen bereiten sie uns vor? Das ist nicht schwer vorauszusehen, weil die Reiseschriftsteller im großen und ganzen gleich sind oder wenigstens zur gleichen Menschenart gehören.

Das Beispiel, das ich hier anführen werde, könnte einen zum Lachen bringen, aber auch erschrecken. Einer unserer heimischen Ideologen, der beharrlich und lästig wie eine Schmeißfliege ist, hat unlängst, das heißt 1987, das bizarre Büchlein „Die kommunistische Stadt“ veröffentlicht, in dem er die ideale, klassenlose Stadt der Zukunft darzustellen versuchte. In dieser sehr glücklichen Stadt scheinen nach ihm alle aus purer Wonne Gedichte zu schreiben. Selbst die Wände der Wohnhäuser widerhallen (buchstäblich) von laut gesprochenen Gelegenheitsgedichten, tagsüber stärker und nachts wahrscheinlich etwas leiser. Alle Menschen in der Stadt der absoluten Freiheit schreiben die ganze Zeit Verse zum Ruhme des Menschen und der Menschheit und rezitieren sie, wo es nur geht. Meistens an den Kreuzungen und in Parkanlagen. Und sie alle träumen dabei und träumen. Damit sie in ihrer öffentlichen Arbeit nicht gestört oder gar gehemmt werden, hat der Schöpfer dieses dichterischen Schlaraffenlandes vorsorglich alle Verbote, alle Warnungen und selbst die Lichtsignale an den Fußgängerübergängen aufgehoben, nicht nur, weil sie veraltet sind, sondern vor allem als Symbole der einstigen Unterdrückung.

Und alles wäre, wenigstens auf dem Papier, schön zu Ende gegangen, hätte sich in den Text nicht einer jener klassischen Fehler eingeschlichen, die auch bei besseren Autoren utopischer Texte aus dem Hinterhalt das ganze System zerstören. Unser Seher, von einem kleinen Überschuß an Begeisterung emporgetragen, stolperte plötzlich und schrieb, daß es in seiner klassenlosen Stadt „kleinere, größere und allergrößte Träumer“ geben werde, und postulierte damit eine Art Kastenhierarchie. Es war ihm offenbar nicht eingefallen, daß sich die „größten Träumer“ früher oder später zu den größten Tyrannen entwickeln könnten.

Ich weiß nicht, wo unser unaufhaltsamer Träumer in der Zwischenzeit war, als man Dubrovnik angriff, Foča anzündete und Sarajevo tötete. Ich weiß nicht, was er währenddessen geträumt, gesprochen und geschrieben hat. Hatte er denn nicht erwartet, daß auch die Ruinen von Vukovar eines Tages flüsternd Verse zum Ruhme des Menschen rezitieren würden?

Heute indessen bekreuzigt sich dieser vom Schicksal nicht bestimmte Erneuerer der Welt mit drei Fingern, was ihm niemand vorwerfen könnte, hätte er nicht zu gleicher Zeit auf das Wohl von Schirinowski sein Glas erhoben. Und das könnte in weiterer Konsequenz bedeuten, daß eine glänzende heimische utopische Vision heute schon längst vor den serbisch-russischen Ochsenkarren gespannt ist. Aus dem Serbischen von Milo Dor

Der Autor ist Architekt und Philosoph, Urbanologe und Essayist. Von 1982 bis 1986 war er Belgrader Bürgermeister, bis 1988 gehörte er dem Zentralkomitee des Kommunistischen Bundes Jugoslawiens an, der damals alleinherrschenden Staatspartei. Als Mitgründer des „Belgrader Kreises“, in dem sich Anfang 1992 unabhängige Intellektuelle und Künstler im Kampf gegen Nationalismus und Chauvinismus zusammengeschlossen haben, gehörte er zu den schärfsten Kritikern des serbischen Präsidenten Slobodan Milošević. Ende 1993 flüchtete er ins Exil nach Wien. Auf deutsch sind von Bogdan Bogdanović zwei Essay-Bände erschienen, beide im Wieser Verlag, Klagenfurth: „Die Stadt und der Tod“ (1993) sowie „Architektur der Erinnerung“ (1994). Heute abend um 20 Uhr liest Bogdanović auf Einladung der tageszeitung, des Wieser Verlages und des Buchladens „Bücherbogen“ in Kreuzberg im „Bücherbogen“, Kochstraße 19, 10969 Berlin.