Die Schleppe der Ächtung

■ betr.: „Dösender Hund vor weibli chem Akt“, taz vom 9. 6. 95

Dank einer taz-Besprechung stieß ich auf den ausgezeichneten Roman „Stirb nicht vor deiner Zeit“ des Jelzin-Freundes Jewtuschenko. Hier las ich folgendes (Seite 523):

„Einmal kam die Mutter einer Dichterin zu mir, die mit einem Kinderwagen auf den Roten Platz gezogen war, um gegen die sowjetischen Panzer in der Tschechoslowakei zu protestieren... Jetzt hatte man sie in ein Irrenhaus gesperrt. Ihre Mutter zeigte mir unter Tränen die Briefe ihrer Tochter, die voller Bitterkeit und Sehnsucht davon sprachen, sich nach ihrer Rückkehr ganz ihren Kindern widmen zu wollen. Ich versprach der Mutter mich mit einem Brief für ihre Tochter einzusetzen... Als ich aus Australien zurückkehrte, hatte ich kaum meine Koffer hingestellt, als schon das Telefon klingelte. Meine zweite Frau ging an den Apparat. Sie übergab mir den Hörer mit beißendem Hohn: ,Das sind also deine Freunde...‘ In den Hörer schnatterte beherzt eine Stimme, die Ähnlichkeit mit spiegelblank geputzten Stiefeln gehabt hätte, wenn man diese vertonen hätte können: ,Hier Kapitän Soundso aus dem Sekretariat des KGB. Ich möchte Sie darüber informieren, daß die Dissidentin Soundso in Übereinstimmung mit ihrem Brief... entlassen wurde.‘ ... Ein paar Wochen später traf ich die inzwischen zurückgekehrte Dichterin auf der Treppe des Hauses des Schriftstellerverbands. Sie kam die Treppe herunter, umgeben von einem Schwarm von Verehrern, die – so schien es mir – ihr ganz verzaubert die Schleppe der Ächtung hinterhertrugen. Sie blieb stehen, blickte mir spöttisch ins Gesicht und legte demonstrativ die Hände auf den Rücken. Sie war überzeugt, daß diese Geste der Verachtung eines Tages in irgendwelchen Memoiren mit begeistertem Seufzen beschrieben werden würde. Was ich jetzt auch tue. Jedoch ohne begeistertes Seufzen, sondern mit bitterem Stöhnen.“ Paul Tiefenbach, Bremen

So, nun ist die Etappe „Pfändung“ geschafft, man findet seinen Namen wieder mal in den Medien und weiter geht die Reise Richtung Bundesverfassungsgericht. Das parteiübergreifende Solidaritätskomitee will nicht, daß eine deutsche Behörde (die von Gauck) diffamiert wird, will nicht, daß ehemalige Täter nachträglich rehabilitiert werden. Dazu geht die postsozialistische Sozialistin Bärbel Bohley schon auch mal ein Bündnis mit ganz unsozialistischen Parteien ein, das Ziel ist edel genug. Aber – es tut mir wirklich leid – ich verstehe den Sinn des Ganzen nur sehr schwer: es gibt ja nun sehr viele Stasi-Opfer, zum Beispiel aus Kirchenkreisen, die interessanter- oder sage ich besser bemerkenswerterweise auch eine IM-Akte haben. Da frage ich mich dann: wie ging diesr Zauber vonstatten? Gemäß den Regeln des doch sehr geschmacklosen Medien-Elfmeterschießens Bohley gegen Gysi war man entweder Täter oder Opfer, tanzte also auf der einen oder auf der anderen Hochzeit.

Nun, diese Frage ist schon zu beantworten, wenn man den Kopf anstrengt. Vielleicht dann am einfachsten zu beantworten, wenn man es nicht nötig hat, auf das Stellen weiterer Fragen zu verzichten. So war in der DDR vielleicht gerade derjenige besonders IM-geeignet, der selbst gar nicht wußte, daß er ein solcher war. Vielleicht hatten ja auch ganz verschiedene Leute Zugang zu Akten im MfS, die einfach mal ein IM hinter eine Adresse schrieben, vielleicht, weil die im Schreiben enthaltene Info für sie von Bedeutung war – es ist ja auffällig, daß die handschriftlichen Notizen in denjenigen Schriftstücken, die durch die Medien gingen, recht verschieden auszusehen schienen.

Kurzum, zur Entschlüssung dessen, was wirklich passiert ist, scheint die herkömmliche Herangehensweise der Aufklärung nicht auszureichen, oft sogar in die Irre zu führen. Warum gibt es bis heute, fünfeinhalb Jahre nach der „Wende“, keine Kommission, die sich mit der „Verfahrenswirklichkeit“ des MfS beschäftigt? Oder besteht da tatsächlich kein Interesse dran? Oder haben die Gerichte soviel Zeit, sich mit allerlei BürgerrechtlerInnen-Prozessen zu beschäftigen? Oder tut es Not, nicht an die eigentlich Verantwortlichen zu kommen? Viele offene Fragen, die mir keineswegs so transzendent erscheinen, daß ich sie als unlösbar abhaken würde. Auflösbares nicht aufzulösen, läßt auch auf eine bestimmte Verfahrensweise rückschließen, genauso, wie entlastendes Material für einzelne Personen bei der Aufklärung ihrer DDR-Vergangenheit nicht zur Kenntis zu nehmen. Darüberhinaus halte ich es für die Pflicht eines Rechtsstaates, vertreten durch seine Behörden und Ministerien, dem Bürger Aufklärung in wichtigen Dingen zu garantieren. Aber der Westen war ja schon immer all das, was der Osten nicht war; wenn der westdeutsche Rechtsstaat existiert hat, weil „drüben“ ein Unrechtsstaat gewerkelt hat, dann ist mit dem Fall der Mauer die Demokratie jetzt aber sehr stark gefährdet! Alexandra Plaicker, Berlin