Zensur ist ein Virus

■ Gespräch mit Christian Salmon, dem Generalsekretär des internationalen Schriftstellerparlamentes über Prominenz, Poesie und das Erbe des Kolonialismus

taz: Monsieur Salmon, wie arbeitet das „Parlament der Schriftsteller“?

Christian Salmon: Bisher lassen sich zwei Phasen unterscheiden; zunächst ging es darum, Aufmerksamkeit zu erlangen. Dazu dienten unsere beiden Versammlungen in Lissabon und Straßburg Ende 94. Seit Januar nun konzentrieren wir uns statt auf Appelle auf die Arbeit für die „Städte der Zuflucht“. Wir haben das Parlament gegründet, um die Isolation verfolgter Künstler, Schriftsteller und Intellektueller aufzubrechen. Das Netz der Städte soll sich nicht auf ein paar Stipendien hier und dort beschränken, sondern wir wollen eine neue Landkarte der geistigen Freiheit zeichnen. Deshalb auch ist der Beschluß der 400 im Europarat vertretenen Städte und Regionen so wichtig, unsere Charta anzunehmen. Aus einzelnen Punkten wird so ein zusammenhängender Raum.

Welche Rolle spielen die großen Namen?

Wir brauchen natürlich Prominenz. Symbolfiguren wie Salman Rushdie und jetzt auch Taslima Nasrin müssen aber in ihrem globalen Kontext gesehen werden. Sie dürfen nicht dazu führen, daß sich die Diskussion nur noch um einzelne dreht. Wenn nämlich die Personalisierung zu weit geht, konzentriert man sich viel zu stark auf den Fundamentalismus. Es ist fast nirgends mehr ein Tabu, Künstler anzugreifen. In Frankreich etwa vergeht kaum ein Tag ohne Anfeindungen oder Anschläge auf Künstler und ihre Werke. Einer der großen französischen Ayatollahs, Monsignore Lustiger, hat nach dem Anschlag auf den Scorsese- Film erklärt, die Gestalt Christi gehöre halt nicht den Künstlern. Jahrhunderte der Kunstgeschichte werden einfach gestrichen.

Ein Parlament von Schriftstellern ist doch ein innerer Widerspruch; welche Bedeutung hat hier noch die Poesie?

Das Parlament ist ein Motor mit verschiedenen Gangarten: Ich kümmere mich hauptsächlich um die Arbeit im Hintergrund. Aber das Parlament lebt von großen Ereignissen wie der Straßburger „Nacht der Solidarität mit Algerien“. In seinem Beitrag für Lissabon schrieb Jacques Derrida, daß wir nichts ändern werden, wenn wir nicht unser Schreiben ändern, wenn wir nicht in neuen Formen handeln.

Ohne die Präsenz des Poetischen und der Fiktion gibt es kein Parlament der Schriftsteller. In Berlin werden wir uns mit dem Thema Zensur befassen, die ja längst nicht mehr nur staatlich ist. Zensur ist überall; sie mutiert wie ein Virus. Dagegen können wir nur mit und in literarischen Formen vorgehen.

So sind die „Städte der Zuflucht“ erst mal eine politische Geste; sie werden aber auch eine poetische sein, dadurch, daß neue Literatur entsteht und übersetzt wird: der Schriftsteller als Antivirus der Zensur.

Die „Städte der Zuflucht“ liegen alle in Europa, die Verfolgten kommen aus der „Dritten Welt“, die Reichen kümmern sich um die Armen. Reproduzieren sich hier nicht auch sehr ambivalente Traditionen und Strukturen?

Entweder wird das Netz der Städte global, oder es hört auf zu existieren. Zum Glück sind auch andere Orte an einer Zusammenarbeit interessiert, zum Beispiel Nagasaki, São Paolo und das südafrikanische Durban.

Der Westen als kolonialistischer Sachwalter der Menschenrechte – das war vielleicht einmal zu Zeiten Sartres, als die einen den anderen noch meinten sagen zu können, was Recht und was Unrecht sei. Das wäre heute pure Heuchelei.

Es gibt Hunderte von Verfolgten, Hunderte von Kunderas, Solschenizyns und Breytenbachs, und was macht der Westen? Er schlägt die Tür zu. Gerne klärt man hier jeden über Menschenrechte auf, aber das Grundrecht auf Asyl mißachtet man selbst.

Wie geht das „Parlament“ mit dem kolonialistischen Erbe um?

Es geht immer um die Frage nach der Autonomie der Intellektuellen. Was aber heißt Selbstbestimmung zum Beispiel in der islamischen Welt, wie steht es eigentlich dort mit der Tradition des Profanen? Wir können nicht einfach unsere Idee von Autonomie exportieren. In der Praxis bedeutet das: Nicht nur das Recht des einzelnen muß verteidigt werden, sondern die künstlerischen Arbeitsbedingungen. Ein Beispiel unter vielen: Wir arbeiten momentan mit einigen tibetanischen Schriftstellern. Zunächst mußten wir einmal begreifen, worum es für sie geht, warum (und wie) sie versuchen, ihre bedrohte Sprache zu bewahren. Jetzt sind sie dabei, ein Kommunikationsnetz aufzubauen, mit dessen Hilfe sie zumindest Kontakt miteinander halten und ihre Texte zirkulieren lassen können. Dabei versuchen wir zu helfen.

Salman Rushdie sprach vom „Königreich des Imaginären“, dem der Schriftsteller angehöre; hat es eine Hauptstadt?

Eine Hauptstadt, ein Zentrum, von dem aus sich die Kultur ausbreitet zu den „barbarischen“ und analphabetischen Rändern: das sind neokolonialistische Ideen, die längst obsolet sind.

Dennoch ist die Welt von heute, geschichtlich bedingt, strukturiert um einige Zentren: da sitzen die Verlage, die Universitäten, das Geld. Das aber hat seine paradoxen Seiten.

Nicht nur, daß in der Dritten Welt jetzt neue Zentren entstehen; die alten Kapitalen erfahren ihre inneren Widersprüche. Neue literarische Bewegungen kommen von draußen, aus den ehemaligen Kolonien: karibische Autoren erneuern die englischsprachige Literatur, und im frankophonen Raum kommt das Interessanteste von den Antillen und aus Nordafrika. Paris, das ist nur noch eine Vitrine. Interview:

Hans-Joachim Neubauer