Die Weltbank denkt nach

Neue Töne der Ökonomen: Die Bekämpfung der Armut ist eine Herausforderung, und der Staat soll eine wichtige Rolle spielen  ■ Aus Rio de Janeiro Astrid Prange

Seit der Finanzkrise in Mexiko im Dezember 1994 zeigen sich die Wirtschaftswissenschaftler der Weltbank äußerst lernbereit. Die Bekämpfung der Armut gelte als „die Herausforderung des kommenden Jahrtausends“, verkündete Chef-Volkswirt Sebastian Edwards während der Weltbank- Konferenz zur wirtschaftlichen Entwicklung Lateinamerikas und der Karibik in Rio de Janeiro. „Die Rolle des starken Staates ist wichtiger, als wir zuvor angenommen hatten“, räumte er bei einer Pressekonferenz am Montag nachmittag ein.

Dies bedeute nicht, so Edwards, daß die öffentliche Hand industrielle Besitztümer anhäufen oder den Handel steuern solle, sondern daß der Staat mächtige Institutionen hervorbringe, die Konkurrenz fördert und Konsumenten schützen.

Die Sanierung der Staatshaushalte verlange dringend nach sozialen Begleitmaßnahmen. Seit den fünfziger Jahren sei die Zahl der Armen in Lateinamerika nicht gesunken. „Den grundlegenden Bedürfnissen armer Bevölkerungsschichten zu entsprechen ist kein soziales, sondern ein politisches Thema“, heißt es in dem Papier. Die plötzliche soziale Ader kommt nicht von ungefähr: Eine Grundversorgung in den Bereichen Bildung, Gesundheitswesen und Ernährung hätte auch positive Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum der Region.

Chef-Ökonom Edwards zitierte die mexikanische Krise als Beispiel dafür, daß der Kampf gegen grassierende Armut nicht weiter aufgeschoben werden dürfe. „Die sozialen Spannungen in Mexiko haben die Finanzkrise zur politischen Krise gesteigert“, erinnerte er. Zusammen mit dem stellvertretenden Weltbank-Vorsitzenden Shahid Javed Burki gab Edwards an das brasilianische Publikum die „sieben Lektionen“ weiter, die ihn die mexikanische Krise gelehrt habe. Zu den sieben Sünden gehört eine negative Handelsbilanz. Defizite bis zu acht Prozent des Bruttosozialproduktes wie in Mexiko seien nicht finanzierbar, die Zahlungsfähigkeit des Landes bedroht. Ohne Produktivitätssteigerung der lateinamerikanischen Wirtschaft seien die Produkte der Region auf dem Weltmarkt langfristig nicht wettbewerbsfähig. Bessere Ausbildung sowie Investitionen in die öffentliche Infrastruktur seien daher unerläßlich.

Der Zwang, einerseits die Staatsfinanzen nicht wie in Mexiko außer Kontrolle geraten zu lassen, andererseits jährlich 60 Milliarden Dollar für den Ausbau der mangelhaften Infrastruktur in der Region ausgeben zu müssen, der ein langfristiges Wachstum erst möglich mache, ergebe einen Widerspruch. „Nach der Wirtschaftskrise in Mexiko betrachten wir schnelles Wachstum als gefährlich“, meint Weltbank-Vize Shavid Burki. Trotzdem brauche der Kontinent „paradoxerweise eine Wachstumsrate von durchschnittlich sechs Prozent. Darunter kann die Armut nicht wirkungsvoll bekämpft werden“, so Burki.

Argentiniens Wirtschaftsminister Domingo Cavallo beispielsweise kann von solchen Wachstumsraten nur träumen, erst recht von Investitionen im sozialen Bereich. Um den internationalen Zahlungspflichten nachzukommen, zahlt der Wirtschaftsminister seinen Beamten in diesem Monat kein Gehalt aus. Der von ihm im April 1991 eingeführte feste Kurs des Peso zum Dollar beendete zwar die Hyperinflation am Rio de la Plata, doch stürzte sie das Land gleichzeitig in eine brutale Rezession.

Um den Zusammenbruch der Wirtschaft zu verhindern, nahm die Regierung von Präsident Carlos Menem kurzfristig eine Milliarde Dollar auf. Für soziale Belange gewährte die Weltbank weitere 600 Millionen Dollar. Doch die Hilfe für die Armen Argentiniens ist kein Geschenk: sie muß mit Zins und Zinseszins zurückgezahlt werden.