Sanssouci
: Nachschlag

■ Die Zeit stand still: Laurie Anderson im Tempodrom

War kein Theater zur Performance frei? Im Tempodrom-Zelt strahlt um acht Uhr abends die Sonne noch durch die Gummi-Bespannung auf die Bühne und vermischt sich mit dem roten Scheinwerferlicht zum Zwielicht. Die Widersprüche liegen in den Details und heben doch im Vorfeld schon die strenge Spannung auf, mit der Laurie Anderson sonst ihre Multimedia-Auftritte inszeniert: Die bis auf einen Mikrofonständer entleerte blaue Bühne paßt nicht zu den behelfsmäßig aufgereihten weißen Klappstühlen, das Ächzen und Knarren der Holzbänke stört die fein surrende Begleitung der vom Band eingespielten Industrial- und Computerklänge. Drinnen ist es wie draußen, wo ein Stand mit CD-ROM-Produktionen mit dem steineverkaufendenFoto: Roland Owsnitzki/Votos

Selbsthilfeprojekt für ein neues Zeltgebäude am Anhalter Bahnhof konkurrieren muß. Zusammen wirkt das alles sehr bemüht und matt.

Später dann zeichnet sich unter großem Tamtam die Silhouette der kleinen Frau im schwarzen Gymnastikanzug vor einer flimmernden dreifach-projizierten Videowand ab. Laurie Anderson ist in Gestik und Radikalität mit ihrem neuen „Nerve- Bible“-Programm weit zurück zu frühen Performances gekehrt. Schon die technische Modulation der Stimme, das freundliche Vocoder-Grummeln, durch das Anderson als Erzählerin in zahllose Figuren schlüpft, klingt düster, bleiern und schwerer als bisher. Als sie zu singen anfängt, meint man von ferne Patti Smith wiederzuerkennen. Der Sound ist reduziert, teilweise legt sich nur ihr enervierend gläsernes Geigenspiel über den Raum, kriechen ein paar dumpfe Trommelschläge durch das Zelt. Das 80er- Jahre-Pop-Appeal von „Mr. Heartbreak“ jedenfalls ist ebenso verflogen wie die künstlerische Schlichtheit eines „O Superman“. Eher kommt der Abend einer Konfession gleich: Anderson beichtet und zählt immer wieder Ängste auf. Dazu tritt im Film die Zeit auf der Stelle, immer ist es 0:00 Uhr. Manchmal schweben einsame Landstraßen und Luftblasen unter Wasser vorbei, im nächsten Moment wechselt das Bild zu sezierten Kuhaugen oder Hochhäusern und zuletzt abstrakten Mustern in Schwarz-Gelb. Dann endet die Animation im Internet. Anderson steht vor überdimensionalen Buchstabenreihen, die über die Leinwand rasen, und betet ein „http“ herunter. Daß der Computer keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gibt, macht die Künstlerin traurig, deren frühere High-Tech-Präzision noch als verlängerter Arm des Feminismus funktionierte. Wo Laurie Anderson zuvor gewitzt über die Medien dominierte, agiert sie nun dem System hinterher. Eine Gliederpuppe tanzt melancholisch zwischen lauter Daten. Harald Fricke