Vertauschte Rollen: Indios vertreiben Armee

Tausende von IndianerInnen kehren aus dem mexikanischen Exil nach Guatemala zurück. Grundlage ist ein Abkommen mit der URNG-Guerilla – aber noch immer versucht die Armee, die Rückkehr zu behindern  ■ Aus Guatemala Ralf Leonhard

Als die ersten Rückkehrer am 21. März in San Antonio Tzejá eintrafen, um die Wiederansiedlung von 40 Familien in ihrem Heimatdorf vorzubereiten, stießen sie auf unerwarteten Widerstand. Eine Gruppe von Dorfbewohnern, organisiert in den sogenannten Selbstverteidigungspatrouillen, versperrte der Delegation den Weg. Der Wortführer, ein gewisser Raul Martinez, drohte mit Waffengewalt. „Er erklärte, wir seien Terroristen und hätten in San Antonio nichts zu suchen“, erzählt Santos Coc, der damals die Abordnung anführte.

Die indianischen Bauern vom Volk der Mam waren im März 1982 vor den brutalen Aktionen der Armee geflüchtet. Die Nachrichten von Massakern in nahegelegenenen Dörfern wie Cuarto Pueblo, Santa Maria Tzejá, Kaibil Balam und Santo Tomas hatte sie bereits erreicht, und auch in San Antonio Tzejá war der eine oder andere nicht mehr von der Arbeit auf dem Feld zurückgekehrt.

Die Soldaten waren überall im Ixcan, im tropischen Norden der Provinz Quiche, und sie machten sich nicht die Mühe zu untersuchen, wer Kontakte zur Guerilla hatte. Die Gemeinschaft haftete kollektiv, Frauen und Kleinkinder eingeschlossen. Daher wollten die Bewohner von San Antonio kein Risiko eingehen. Sie machten sich alle auf den Weg nach Norden. „Nach zwölf Tagen erreichten wir die mexikanische Grenze“, erinnert sich Santos Coc. Keiner hätte sich damals träumen lassen, daß das Exil mehr als 13 Jahre dauern würde.

Über 20.000 guatemaltekische Flüchtlinge warteten in Lagern in den Bundesstaaten Chiapas, Quintana Roo und Campeche auf die Heimkehr. Schon in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, nachdem die Militärs zwar nicht die Macht, aber immerhin die Regierung an Zivilisten abgegeben hatten, rief der christdemokratische Präsident Vinicio Cerezo eine staatliche Kommission für die Repatriierung der Flüchtlinge ins Leben. Doch nur kleine Gruppen und einzelne Familien überwanden damals bereits ihr Mißtrauen. Erst nachdem ein Abkommen mit der Guerilla URNG den Rahmen für die systematische Rückführung der Vertriebenen geschaffen hatte, konnte im Januar 1993 die massive Wiederansiedlung beginnen.

Die normalen logistischen Probleme, die jeder Massenumzug mit sich bringt, wurden noch um die Einwände der Militärs gegen die Wiederbesiedelung des Konfliktgebietes vermehrt. Die Rückkehrer, hieß es, würden wie schon vor ihrer Flucht der Guerilla als soziale Basis dienen. Doch der gemeinsame Druck der Rückkehrwilligen und internationaler Organisationen, vom UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) bis zu Solidaritätsgruppen in Zürich oder Würzburg, war stärker.

Allerdings haben auch die Militärs noch Mittel und Wege, die unerwünschte Repatriierung zu verzögern. In vielen verlassenen Dörfern hatten sich unter ihrem Schutz neue Siedler niedergelassen – als Bollwerk gegen die Guerilla und organisiert in den der Armee untergeordneten „Selbstverteidigungspatrouillen“. So auch in San Antonio Tzejá, wo der Chef der Patrouillen, Raul Martinez, sich einfach über ein vom Verteidigungsministerium unterzeichnetes Abkommen hinwegsetzte, wonach die PAC zu entwaffnen und die Siedler, nach entsprechender Entschädigung, abzuziehen seien.

„Wir haben hier schon viele Beschwerden über diesen Martinez gehört“, bestätigt auch der Friedensrichter von Cantabal, der für die ganze Region des Ixcan zuständig ist, „aber offenbar hat er einflußreiche Freunde – in Uniform“.

Cantabal ist ein ungemütlicher Vorposten für die Besiedlung der Urwaldregion Ixcan. Hier kann man sich mit Werkzeug, Proviant, Kleidung und Batterien für das Leben in den abgelegenen Siedlungen eindecken. Ein halbes Dutzend Telefone garantiert den Kontakt zur Außenwelt, die über die Straße in der Trockenzeit in zehn Stunden zu erreichen ist. Als weithin sichtbare Orientierungshilfe dient ein mit Coca-Cola-Werbung bemalter Wasserspeicher. Anfang Mai lagerten die Heimkehrer noch immer in einem Annex des Pfarrhauses von Cantabal. Bei infernalischem Klima, das durch das Wellblechdach noch zusätzlich aufgeheizt wurde, vertrieben sie sich die Zeit mit Kochen, Essen und Schlafen. Santos Coc legte ein Dossier von Dokumenten auf den Tisch. Sie sind aufgequollen von der extremen Luftfeuchtigkeit. Im jüngsten Abkommen, unterzeichnet vom Kommandanten der Militärzone 22 von Playa Grande bei Cantabal, Funktionären der staatlichen Instanzen, des UNHCR und Vertretern der Flüchtlinge, anerkennt die Regierung den „zivilen und friedlichen Charakter der Rückkehr“ und die Militärs verpflichten sich, „die illegalen Aktionen des Herrn Raul Martinez abzustellen“.

Offensichtlich sei die Armee gespalten, mutmaßen die Vertriebenen. Was von den Offizieren am Verhandlungstisch unterschrieben werde, hätte für die Feldkommandanten und deren Helfershelfer in den Zivilpatrouillen nicht unbedingt Geltung. Das erklärt auch die Ereignisse von Mayalan, wo Ende April eines Nachts 45 Soldaten durch das Dorf marschierten. Als ein Dorfbewohner Alarm schlug, ergriffen die Uniformierten die Flucht, doch einer, der besonders schwer zu schleppen hatte, blieb zurück und wurde festgehalten. Der Kommandant der Zone persönlich mußte ihn auslösen und sich schriftlich verpflichten, keine Truppen mehr unangemeldet in die Dörfer zu schicken.

Kein Zweifel: Guatemala hat sich verändert. Die Friedensgespräche mit der Guerilla und die organisierte Rückkehr der Vertriebenen haben eine neue Situation geschaffen: indianische Bauern wagen es, sich zur Wehr zu setzen. In vielen Dörfern des Hochlandes wurden die verhaßten Zivilpatrouillen bereits abgeschafft. Von mehr als einer Million Bauern, die zu Zeiten des Diktators Efrain Rios Montt (1982/83) in den Zivilpatrouillen organisiert waren, sind nach Schätzungen von Leocadio Juracan nicht mehr als 300.000 übriggeblieben. Er muß es wissen, denn zu seinen Aufgaben als Vertreter der „Bauernkomitees des Hochlandes“ (CCDA) gehört es, die Dorfbewohner zur Auflösung der – laut Verfassung freiwilligen – Wehrgruppen zu ermutigen. Statt der den Militärs unterstellten Zivilpatrouillen wurden jetzt in vielen Gemeinden unabhängige Selbstschutzverbände auf die Beine gestellt, die nicht nur das Eindringen der Guerilla verhindern und für die interne Disziplin sorgen sollen, sondern auch die Armee vom Dorf fernhalten.

Auch die Siedlungen der Rückkehrer sind so organisiert. „Victoria 20 de Enero“ – „Sieg vom 20. Januar“ – ist die älteste Rücksiedlergemeinde im Ixcan, benannt nach dem Datum, an dem 250 Familien im Jahr 1993 die Grenze zur Heimat überschritten. In den ersten Monaten hatten sie noch gelegentlich Schwierigkeiten mit den Militärs. Zum Beispiel, als Soldaten den Fährmann festnahmen, der mit seinem Kahn zwischen den beiden Ufern des Rio Xalbal verkehrt. Der hatte nämlich auch Leute aus den sogenannten Widerstandsdörfern über den Fluß befördert. Die Widerstandsdörfer sind Siedlungen von Vertriebenen, die während der Jahre der schlimmsten Repression in die Berge flüchteten und bis heute nicht wagen, wieder zurückzukommen. Obwohl sie dank der Vermittlung der UNO inzwischen offiziell als Zivilbevölkerung anerkannt sind, gelten sie der Armee als „Nester der Subversion“.

„Damals protestierten die Frauen“, erzählt der 44jährige Miguel Vargas, der vor einem der kleinen Läden eine lauwarme Fanta durch die Gurgel rinnen läßt. Auch als eine ganze Brigade wenige Kilometer entfernt in einem Maisfeld ihr Lager aufschlug, zogen die Militärs den kürzeren. Die Dorfbewohner riefen Vertreter das UNHCR und setzten den Abzug der mehr als 800 Mann durch.

Im letzten Jahr hat sich kein Soldat mehr blicken lassen. In „Victoria“ spürt man keine Angst oder Verunsicherung. Nur wenn einer der Dorfbewohner in die Hauptstadt oder zu einer anderen Siedlung reist, läßt er sich von einem der ausländischen Beobachter begleiten.

In „Victoria“, knapp 40 Minuten nordwestlich von Cantabal, ist alles noch Provisorium. Zwar steht schon ein Gemeinschaftszentrum, wo Versammlungen stattfinden und jede Art von Schulungen veranstaltet werden können, doch die Bewohner hausen noch in windschiefen Hütten aus mit Lianen zusammengebundenen Brettern und dünnen Baumstämmen, durch deren Wellblechdächer bei jedem tropischen Regenguß das Wasser schießt. In der Regel teilen sich die Kinder mit der Mutter ein Bett aus zusammengenagelten Planken; Vater schläft in der Hängematte. Bis jetzt wurden keine Parzellen zugewiesen, weil das Gelände noch nicht einmal vermessen wurde. Auch weiß noch keiner, wo er einmal seinen Acker bestellen soll. Angeblich wird es zehn Jahre dauern, bis das Agrarreforminstitut jedem seinen Eigentumstitel ausstellt. Doch so lange will keiner warten: die umliegenden Wälder werden bereits nach und nach mit der Motorsäge dezimiert. Vom Flugzeug aus sieht man wie der Primärwald immer mehr zurückweicht. Dutzende Rauchsäulen zeigen an, wo wieder ein Stück Boden für Acker- oder Weideland vom störenden Holz befreit wird. Auch wenn Umweltbewußtsein gepredigt wird: es fehlen Werkzeuge und Maschinen für den Abtransport der Baumstämme. So ist die steinzeitliche Brandrodung immer noch die kostengünstigste Methode zur Erschließung landwirtschaftlicher Nutzflächen.

„Victoria“ unterscheidet sich von gewachsenen Dörfern nicht nur durch das Fehlen der kolonialen Kirche und der gekalkten Steinhäuser: während in den indianischen Dörfern des Hochlandes vor allem bei den Frauen das alltägliche Tragen der bunten Tracht die Regel ist, laufen hier ganz wenige in ihrem selbstgewebten Huipil und Corte herum. Ein fahrender Kleiderhändler aus Huehuetenango, der seine Billigware unter dem Vordach der Konsumgenossenschaft ausbreiten darf, macht mit gebrauchten T-Shirts aus den USA das meiste Geschäft.

Doch es ist nicht nur die Hitze, die die Frauen veranlaßt, ihre schweren Huipiles zu Hause zu lassen. In den Flüchtlingslagern, wo Angehörige verschiedener Ethnien auf engem Raum zusammenleben mußten, ist eine neue Kultur entstanden. Auch in „Victoria 20 de Enero“ haben Quiches, Kak- chikeles, Kekchies, Ixiles, Jacaltecos, Kanjobales und Mam gemeinsam eine neue Heimat gefunden. Wenn auch in der Familie jeder seine Sprache pflegt, müssen sie sich untereinander auf Spanisch verständigen. Auch der Unterricht in der sechsklassigen Volksschule findet auf spanisch statt.

„Auf ihren Stelen verewigten die Mayas ihre Gedanken“, liest der junge Lehrer den Schülern der vierten Klasse vor. Im Heimatkundeunterricht wird den Kindern die Kultur der Mayas, der gemeinsamen Vorfahren, nahegebracht. Das Lehrmaterial wurde von Experten der Volksorganisationen eigens für die Flüchtlingslager in Mexiko erarbeitet. Von den traditionellen Rivalitäten verschiedener Ethnien ist in „Victoria“ nichts zu spüren. Es wird sogar kreuz und quer geheiratet, und viele lernen eine dritte Sprache. „Ich verstehe ziemlich gut Kak-chikel und kann sogar ein paar Worte Mam, das ist die schwierigste Sprache“, erzählt Cecilia Perez, eine der wenigen Quiches im Dorf und mit ihren 36 Jahren demnächst Großmutter. Sie ist sich sicher, daß die indianische Identität durch das Exil nicht verlorengegangen ist: „Die Kinder lernen zu Hause ihre Sprache, und an Feiertagen kramen die Frauen auch wieder ihre Huipiles hervor“.

War früher das Ablegen der Tracht der bewußt getroffene erste Schritt zur Verleugnung der Identität, zum Aufstieg in die Welt der Mestizen mit ihrem größeren Bildungs-, Vergnügungs-, und Arbeitsangebot, so bedeutet heute das Tragen westlicher Kleidung nicht notwendig einen Gesinnungswandel. Maya sein ist „in“. Spätestens seit der Gegenkampagne gegen die offiziellen Feiern der 500 Jahre Eroberung Amerikas sind die indianische Kultur und Philosophie über Intellektuellenkreise hinaus salonfähig geworden.

Ausdruck dieses neuen Selbstbewußtseins ist das „Abkommen über die Identität und die Rechte der indianischen Völker“, das am 29. März von den Verhandlungsdelegationen der Regierung und der Guerillafront URNG unterzeichnet wurde. Das Dokument von 23 Seiten geht zwar ausführlich auf die kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Rechte der indianischen Mehrheiten Guatemalas ein, verbrieft etwa den legitimen Anspruch auf Gemeindeland und Ausstellung von Landtiteln, verspricht die Gleichstellung der indianischen Sprachen im Amtsverkehr und stellt die Berücksichtigung indianischen Gewohnheitsrechts bei der Gesetzgebung in Aussicht, doch enthält es außer den Menschenrechtsgarantien keine Bestimmungen, die unmittelbar anwendbar wären. Roger Plant, der Verantwortliche der UN-Mission für Guatemala (MINUGUA) für indigene Fragen, sieht das Dokument eher als Programm für die nächsten Jahrzehnte, das außer administrativen Maßnahmen, Verfassungsänderungen und Gesetzesinitiativen eine schrittweise Umerziehung der zutiefst rassistischen Gesellschaft erfordert. Bei einem Treffen Anfang Mai erklärten sich die verschiedensten indianischen Organisationen im Prinzip einverstanden mit dem Abkommen. An ihnen liegt es, jetzt Druck zu machen, damit es auch in die Praxis umgesetzt wird. Und die Rücksiedler, die die alten Ängste abgelegt haben, können ihren Brüdern die neue Wirklichkeit vorleben.