Zwischen den Rillen
: My private Jericho

■ Spätes von Scott Walker und Paul Weller

Daß an den Hörgewohnheiten des ausgehenden 20. Jahrhunderts noch irgendwas zu irritieren ist, hätten ohne das anschauliche Beispiel von „Tilt“ wohl die wenigsten unterschrieben. Doch der gute alte benjaminsche Chok lebt! „Do I hear 21, 21, 21? I'll give you 21, 21, 21“, singt Scott Walker, bevor Glas, Stahl, Eis, Kryptonit oder was auch immer aus den Boxen splittern, ein seltsamer, einsamer Irrläufer verschollener Avantgarden, nicht Techno, nicht Minimal, nicht Donaueschinger Musiktage, sondern populäre Musik in „literarischer“ Tradition, die das britische Q-Magazin bereits forsch „das erste Rockalbum des 21. Jahrhunderts“ heraufbeschwören ließ. Wenn so der Rock nach 2000 aussieht, wird er sich von all dem freigemacht haben, was ihn seit den späten Fünfzigern zum Serienmodell hat werden lassen: Melodien, Hooklines, Backbeat, Verse/Chorus- Schema, Boy-meets-Girl-Thematik, Straßenhumor, explicit lyrics. Er wird sich zurückgewendet haben zum Hermetismus einer Moderne, deren mangelnden Massenappeal er damals eigentlich abzulösen gekommen war.

Doch das ist Science-fiction und „Tilt“ zunächst einmal nicht der Rock der Zukunft, sondern der späte Einwand eines Mannes, der in den Sechzigern ein Star war. 11 Jahre liegt sein letztes Album („Climate Of Hunter“) zurück, 17 sein letzter Live-Auftritt, ganze 29 Jahre ist es her, daß Scott Walker mit den Walker Brothers und „The Sun Ain't Gonna Shine Anymore“ den letzten Nummer-1-Hit hatte. Eine Spanne, in der nach Popzeitrechnung ganze Milchstraßen im Nichts versinken, aber immer noch muß Noel Scott Engel, wie es im Paß steht, beweisen, daß unter der obligatorischen Sonnenbrille kein Teenage-Idol haust, sondern ein ernster, klösterlicher Geist.

„Tilt“ ist ein hingeworfener Brocken Monomanie, Zwangsarbeit an einem Lebenswerk, in dessen Zentralkammern das Drama des verkannten Genies gegeben wird – hier aber so glücklich/unglücklich veräußert, daß Rätselhaftes passiert: Man muß und möchte plötzlich in der Beschreibung das Pathos wiederholen, dem Walker in seinen Songkonstruktionen tremolierenden Lauf läßt, und man möchte es gerade dann, wenn sein Opernbariton weit draußen an den Abgründen des Kitschs entlangsegelt, wie etwa in „A Farmer In The City“, einer elegischen Hommage an Pasolini, oder in „The Cockfighter“, in dessen düsteren Industrial- Pomp Walker Passagen aus dem Eichmann-Prozeß einmontiert hat.

Warum das so ist, bleibt ungelöst, denn kein Motiv, kein Textfragment („The Luzerner Zeitung never sold out ...“ – was will uns das sagen?) geht für sich genommen über die bekannten Endspiele der Moderne hinaus: die Erzählungen vom gespaltenen Ich, dem Text als Irrgarten, dem Himmel als Wüste und der Erde als Ort der Apokalypse – alles Essentials, die in germanistischen Seminaren zu Tode traktiert wurden und zu Recht auf diesem Friedhof ruhen. Erst im Kontext dieses rundum verstiegenen Traktats von Platte und seiner aus spitzwinkligen Noise-Resten, Insektenschaben, Grabesarien und Stimmen von Wahnsinnigen zusammengeklaubten und -geschraubten, unmöglichen, aber irgendwie funktionierenden Musik erwacht das zu neuer Bedenklichkeit. Berührt wie erschrocken erkennt man, was das hier allen Ernstes sein will: ein bißchen Trompeten von Jericho, ein bißchen Jüngstes Gericht, ein siebenundfünfzig Minuten anhaltender Einspruch gegen den Brummkreisel Pop und was da so dranhängt – „Tilt“ sagt ja der Flipper, wenn sein Spieluhrenkosmos durch übergroße mechanische Erschütterung von außen gestört wird.

Erschrocken, weil das natürlich auch zum Fetisch taugt. Wer Pop immer schon seicht, räudig und nichtssagend fand, kann sich aus diesem vollversplitterten, emotionsverstrahlten Material eine neue Kunstreligion zurechtbasteln, und das wäre ein Mißverständnis – oder doch keines? Humor ist zwar nichts, womit einem Manne wie Scott Walker gedient wäre, aber so oder so wünscht man ihm weitere 20 Jahre der Immunität gegen falsche Freunde und Gottesanbeter. Sonst geht der Weg nicht ins nächste Jahrtausend, sondern zurück in die Fünfziger.

Same player shoots again auch im Falle Paul Wellers, der, mehr als ein Jahrzehnt nach dem Ende seines Ur- und Erfolgsmodells The Jam, mit einem weitgehend live eingespielten, sehr britisch beheimateten, ref- und reverenzreichen Album ins Rennen geht. „Stanley Road“, Wellers dritte Solo-LP (nach insgesamt 13 Studioalben) ist natürlich „Abbey Road“, das heißt Studioarbeit mit Freunden und Nachbarn in einem paranoiden Zustand des drohenden Klassikerwerdens, zugleich aber „Penny Lane“, die leicht verklärte Anmutung eines ewigen Arbeiterklassenhimmels in der Vorstadt, mit der Weller seine endgültige Abkehr vom flüchtigen, „französisch“ inspirierten Modernismus seines letzten gescheiterten Bandexperiments The Style Council zementiert. „Strawberry Fields“ wird erstrebt, aber nicht erreicht.

Man will nichts gegen einen verdienten Mann wie diesen sagen, zumal erkennbar ist, was er will – den Rhythm'n'Blues, der all das möglich gemacht hat, läutern und läutern, bis irgendwann wieder die Wurzel rausschaut, nackt sozusagen –, aber er treibt seine Songexerzitien damit zugleich in ein klimakterisches Stadium suburbanen Wünschens: Wer seinen Vater zum Manager macht, mag ein gelungenes Beispiel für die Volksweisheit abgeben, derzufolge alles in der Familie bleibt, doch weh tut das keinem mehr, nicht einmal der Kaffeemaschine.

Wenn Weller so weitermacht, wird er bald in den wertkonservativen Programmen von Erwachsenenrocksendern wie VH-1 landen, Slogan: „Music that means something“. Thomas Groß

Scott Walker: „Tilt“ (Fontana/ Mercury)

Paul Weller: „Stanley Road“ (Metronome)