Ein Museum peronistischer Politik

Wo General Juan Domingo Peron vor einem halben Jahrhundert Fabriken gründen ließ, um Argentinien aus der Abhängigkeit zu führen, sind heute die Hochburgen der Armut und Arbeitslosigkeit  ■ Aus Rosario Bernd Pickert

„18 Jahre lang habe ich das gemacht“, sagt Eduardo Botti. „18 Jahre lang jeden Morgen um sechs Uhr hier. Immer. Du kommst mit Grippe her, du setzt dich ein, damit alles funktioniert, machst alles, um deinen Arbeitsplatz nicht zu verlieren. Und wofür? Sag mir, wofür?“ Der 38jährige, kräftige Mann mit den hellgrauen Augen und der Lederschürze ist einer von 25 Arbeitern, die in der Stahlküche „Cametal“ in der argentinischen Millionenstadt Rosario noch übriggeblieben sind. Es waren einmal 150, die hier drei Hochöfen am Kochen hielten, Teile für Lkw-Karosserien herstellten, Ventile für Gasleitungen, Werkzeuge und Kleinteile.

1952, zu Zeiten der ersten Regierung Juan Domingo Perons, wurde die Fabrik eröffnet. Fast der ganze Industriegürtel rund um Rosario stammt aus dieser Zeit, als Peron die Industrialisierung verkündete, als er der lange gegenüber der Agraroligarchie unterlegenen Industrieunternehmerschaft Priorität gab, um die Importabhängigkeit zu mindern – und gleichzeitig unter den Industriearbeitern und ihren Gewerkschaften seine solideste Basis aufbaute. Kein Wunder, daß das dreihundert Kilometer von Buenos Aires entfernte Rosario lange Zeit als „Hauptstadt des Peronismus“ gehandelt wurde.

In der Stahlfabrik „Cametal“ ist seit ihrer Errichtung nichts mehr modernisiert worden. Überall stehen Karren herum, verrostet, mit großen, kunstvoll geschwungenen Speichenrädern. Der Sand, mit dem die Formen für die Eisenteile gepreßt werden, wird darin durch die Halle gefahren, per Hand. Ein uralter Kran fährt den Gußkübel, an einer dicken Eisenkette befestigt, an den Hochofen heran, zwei Männer halten den Kübel an Eisenstangen im Gleichgewicht, während der Ofen gekippt wird und das flüssige heiße Metall in den Behälter spritzt. Vorsichtig balancierend fahren die Männer den Behälter an die Formen heran und gießen aus. An den Säulen in der Mitte der Halle sind Zangen und Schaufeln aufgehängt, jederzeit griffbereit. Die meisten sind seit Jahren nicht benutzt worden.

Rund 150 Meter lang ist die Halle, 50 Meter breit. Alles liegt in einem Halbdunkel, unterbrochen vom Dämmerlicht einiger Neonröhren und Glühlampen. „Da oben“, zeigt Botti ins Dunkel, „da gab es ein zweites Stockwerk, da haben noch einmal zehn Schweißer gearbeitet, weil hier unten kein Platz mehr war.“

Platz ist jetzt genug. Statt zwanzig Schweißern arbeiten jetzt noch zwei, statt drei Stahlkochern ist noch einer im Betrieb, statt drei Öfen zur Härtung funktionieren noch zwei – und der kleine im hinteren Teil der Fabrik, wo Kleinteile wie Hämmer und Äxte gehärtet wurden, ist auch schon ewig nicht mehr benutzt worden.

Im hinteren Teil der Fabrik werden nach den Angaben der Kunden die Holzmodelle für die Formen gefertigt. Ein Lager weist Hunderte solcher Modelle auf, die hier in den letzten 40 Jahren gefertigt wurden, von Maschinenteilen zu Elektrogeräten bis zu Eisenbahnkarosserien – das Ganze gleicht einem Museum der argentinischen Importsubstitution.

Weder Botti noch sein Kollege Antonio Di Francesco wissen, wem die Firma derzeit gehört. Im letzten Jahr leitete die alte Unternehmensführung plötzlich das Konkursverfahren ein. Zwei Monate lang stand alles still, bis eine neue Eigentümergesellschaft gefunden war. „Wir kennen die Leute nicht. Es kann sein, daß da immer noch die alten Besitzer dahinterstecken, kann sein, daß es ganz neue sind. Wir wissen nicht, was sie vorhaben, und wir haben auch keine Ahnung, wie eigentlich derzeit die Auftragslage aussieht.“ Und das, obwohl Botti und Di Francesco die Delegierten der Belegschaft sind, der Betriebsrat.

Das einzige, was sie genau wissen, ist, daß auch die neuen Besitzer noch keinen Centavo investiert haben, daß die 25 Arbeiter noch immer Knochenarbeit leisten, 44 Stunden die Woche, neun Stunden montags bis donnerstags, acht Stunden freitags, für einen Stundenlohn zwischen 1,30 und 2,19 Pesos, mit einem Monatslohn von 350 bis 400 Dollar. Botti als qualifizierter Metallfacharbeiter verdient damit etwa ein Fünftel des Gehalts eines Taxifahrers in Rosario. „Man muß sich vieles abgewöhnen“, sagt er, „eigentlich kann man heute mit so einem Lohn nicht leben. Du holst dein Geld ab, und schon eine Woche später mußt du wieder um einen Vorschuß bitten, weil die Stromrechnung gekommen ist.“

Aber trotz allem hat Botti bei den Wahlen am 14. Mai für Carlos Menem gestimmt. „Ich hab' den Präsidenten gewählt“, sagt er, „man muß ihm Zeit geben. Wenn alles funktioniert, dann wird es doch auch hier wieder besser werden. Hoffentlich.“ Sein Kollege Antonio Di Francesco versteht Bottis Haltung. „Es gibt halt viele“, sagt er, „die wissen ganz genau, daß jeder neue Präsident erstmal drei Jahre lang erzählt, daß er gar nichts machen kann, weil sein Vorgänger alles so schrecklich falsch gemacht hat. Und bis der dann mal anfängt zu regieren, hätte der alte vielleicht schon was auf die Beine stellen können.“

Di Francesco selber allerdings hat Menem trotzdem nicht gewählt. Zum ersten Mal hat er dem peronistischen Präsidentschaftskandidaten seine Stimme verweigert. „Ich habe einfach kein Vertrauen mehr“, sagt er, „in niemanden.“ Di Francesco hat seinen Umschlag leer abgegeben. In Rosario, wie sonst nur in der Landeshauptstadt Buenos Aires, hat Menem die Wahlen zugunsten seines Konkurrenten José Octavio Bordón von der neuen „Front Solidarisches Land“ verloren.

„Wir wissen nicht so recht, was wir machen sollen“, sagt Leandro de Oliveira von der UOM, der Metallarbeitergewerkschaft. Die UOM ist Teil der CGT, dem Dachverband der treu an die Partido Justicialista gebundenen peronistischen Gewerkschaften. Nein, Wahlkampf für Menem haben sie diesmal nicht gemacht. Zum ersten Mal nicht. Aber Wahlkampf für Bordon – nein, das ging auch nicht, sagt Leandro, und rutscht ungemütlich auf seinem Schreibtischstuhl herum. „Wo es irgend ging“, sagt Leandro mit gesenkter Stimme, haben wir den Leuten unterderhand gesagt, daß sie Bordón wählen sollen.“ Leandro guckt gequält. „Und jetzt, nach diesem Sieg Menems? Was machen wir denn jetzt?“

Für die Gewerkschaftsfunktionäre ist die Regierungspolitik schuld an der Misere. „Die Militärs haben die Märkte geöffnet, Alfonsín hat sie wieder zugemacht, und Menem hat sie wieder geöffnet – und das ohne jeglichen Schutz! Ist doch klar, daß die Industrie da nicht konkurrenzfähig ist und letztlich das Kapital völlig verunsichert ist und abwandert. Um die Produktion kümmert sich niemand.“ Die Enttäuschung sitzt tief. „Das hätte keiner von Menem gedacht“, sagt Leandro, „Menem war doch Peronist.“

Die Listen, die der Gewerkschafter jetzt vor sich hat, sprechen eine klare Sprache: „Kündigungen, Kurzarbeit und Kurzarbeit null in der Metallbranche Rosarios, Mai 1995“. Und dann geht es los. Menini S.A., Bäckereiausstattungen, 3 Entlassungen. Ind. Platino, Haushaltsgeräte, 3 Entlassungen. Industrias Nino, Ventilatoren, 4 Entlassungen. Ondemar S.A., Autoteile und Stoßdämpfer, 10 Entlassungen. Rectrificar Srl, Motorenaufarbeitungen, Fabrik geschlossen, 12 Entlassungen. Und so geht es weiter, seitenlang, bis schließlich für die ersten zweieinhalb Wochen des Monats Mai eine Gesamtzahl von 485 entlassenen oder auf Kurzarbeit gesetzten Arbeitern in Rosarios Metallbranche herauskommt. Es ist die in Zahlen ausgedrückte Kehrseite der mit billigen Importwaren überschwemmten Einkaufszonen in den Innenstädten Argentiniens.

„Die Krise“, sagt Leandro, „ist in Rosario nicht größer als woanders auch. Aber hier merkt man es besonders deutlich, weil hier so viel Industrie konzentriert ist.“ Eine eigene Arbeitslosenstatistik für den Großraum Rosario existiert nicht, aber in der gesamten Provinz Santa Fe liegt die Arbeitslosigkeit mit 22 Prozent deutlich über dem Landesdurchschnitt. Der wird von unterschiedlichen Quellen mit 12 bis 16 Prozent beziffert.

Eine Arbeitslosenversicherung gibt es nicht, und nur wenige haben das Glück, bei ihrer Kündigung eine Entschädigung zu erhalten. „Aber auch die sind angeschmiert“, erzählt Antonio Botti. „Wenn das gut läuft, dann bekommst du 20 Monatsgehälter. Ein bißchen aufgerundet sind das knapp 10.000 Pesos. Das ist ohnehin schon zuwenig, um selbständig irgendwas beginnen zu können. Aber viel gemeiner ist: Du kriegst das oft nur in Monatsraten à 1.000 Pesos – und damit kannst du dann endgültig nichts mehr anfangen. Wenn du das Geld überhaupt kriegst. Oft sagt der Unternehmer nach zwei Raten: Das war's. Dann kannst du klagen, aber ein arbeitsrechtlicher Prozeß dauert derzeit rund vier Jahre – das hält kein Arbeiter durch.“

Aus der gesamten Industrie des Großraumes werden täglich 80 Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassen. Viele von ihnen kommen in die Stadt – jeden Tag siedeln sich in Rosario etwa 30 Familien neu an, in den „Villas Miserias“, den Slums, die sich vom Stadtrand aus in beide Richtungen fressen –, ins Umland und in die Stadt hinein. Knapp ein Zehntel der Landbevölkerung Santa Fes hat sich in den letzten Jahren auf den Weg in die Städte gemacht. Schon rund 300.000 Menschen leben in Rosario in Armut – das ist rund ein Viertel der Bevölkerung. Nur wenige Häuserblocks von der Stahlfabrik entfernt, in der Calle Felipe Moré, gleich hinter den Bahngleisen, die seit drei Jahren verwaist daliegen, seit die Bahnverbindung nach Rosario im Zuge der Privatisierung eingestellt wurde, hängt ein Transparent: „Hunger ist kein Geschäft!“ Unterschrift: „Zentralküche“. Hier, in den umgebauten Hallen einer ehemaligen Zigarettenfabrik, sind rund zweihundert ArbeiterInnen damit beschäfigt, im Auftrag der Stadtregierung jeden Tag 30.000 Mahlzeiten zuzubereiten, die dann in den öffentlichen Grundschulen kostenlos an die SchülerInnen abgegeben werden. In zwölf 150-Liter-Kesseln brodelt Wundersames, täglich werden 15 Rinder zu 12.000 Hamburgern und Hunderten von „chorizos“ verarbeitet, eine neue italienische Eismaschine produziert täglich 1.400 Portionen Eis, in der Bäckerei werden monatlich rund eineinhalbtausend Säcke Mehl zu Baguettes und süßen Teilchen verbacken, und eine Person ist jeweils den halben Tag nur damit beschäftigt, Hunderte von Eiern aufzuschlagen.

„Rosario“, erklärt Augusto Duri, Vorsitzender der „Fördergemeinschaft Öffentliche Schulen“, die die Küche betreibt, „Rosario hat immer Pionierarbeit geleistet, wenn es um die Qualität der öffentlichen Schulen ging.“ Und während ein Wagen mit 40 Blechen vorbeifährt, auf dem 800 Schnitzel gestapelt sind, macht der alte Mann in wenigen Worten klar, daß es ihm ums humanistische Prinzip geht, wenn er sich gegen den Trend zur Privatisierung der öffentlichen Aufgaben stellt. Früher, erklärt er, war die Schulspeisung dazu da, um allen zu ermöglichen, in die Schule zu gehen. Heute hingegen gehen viele überhaupt nur hin, weil es dort etwas zu essen gibt.

Er fürchtet, daß es auch in Rosario zu jener Art sozialer Explosion kommen könnte, wie sie im Dezember 1993 die Nachbarprovinz Santiago del Estero erschütterte, als Tausende von Menschen Geschäfte plünderten und sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferten. „Mit ihrem Stimmzettel“, sagt Duri, „haben die Leute hier ja schon ihre Unzufriedenheit ausgedrückt, anders als im übrigen Argentinien. Wenn sich nichts ändert, könnten sie zu anderen Mitteln greifen.“