Deckname "Gregor", Nachname Gysi

■ Die Gauck-Behörde geht davon aus, daß die Decknamen "Gregor", "Notar" und "Sputnik" ausschließlich Gysi zugeordnet wurden, daß Gysi direkte Gespräche mit der Stasi führte und daß es ihm klar gewesen...

1. Die vorstehenden Ausführungen mit den beigefügten Belegen zeigen, daß das MfS Dr. Gysi die Decknamen „Gregor“, „Notar“ und „Sputnik“ zuordnete. Dr. Gysi ist demnach identisch mit der Person, die vom MfS (HA XX/9) als IM-Vorlauf bzw. GMS „Gregor“, GMS bzw. IM „Notar“ oder IM „Sputnik“ bezeichnet wurde.

Die Recherche hat ergeben, daß die HA XX/9 diese Decknamen ausschließlich Dr. Gysi zugeordnet hat.

Ob Dr. Gysi diese Decknamen und die im MfS gebräuchlichen Termini kannte, ist offen. Gleichwohl muß es Dr. Gysi klar gewesen sein, daß seine Gesprächspartner MfS-Offiziere waren.

2. Die Analyse der aufgefundenen Dokumente erbrachte keine Anhaltspunkte dafür, daß die von der HA XX/9 als inoffiziell eingestuften Informationen, also jene, die als Quellenhinweis mit einem der o. g. genannten Decknamen versehen waren, nicht von Dr. Gysi stammen.

3. Auf Grund der in diesen Informationen genannten Personen, der kurzen zeitlichen Abstände zwischen Ereignis und der schriftlichen Abfassung der Berichte im MfS sowie nicht zuletzt auf Grund der Dialogform und des auf Mandanten von Dr. Gysi zugeschnittenen speziellen Inhalts dieser Informationen muß davon ausgegangen werden, daß diese das Ergebnis von direkt geführten Gesprächen zwischen Dr. Gysi und den MfS- Offizieren waren.

4. Der Leiter der HA XX/9, Oberst Reuter und sein langjähriger Stellvertreter, Oberstleutnant Lohr, bezeichnen Dr. Gysi in Führungsdokumenten, Berichten, Informationen, Finanzbelegen sowie in persönlichen Aufzeichnungen während der gesamten Zeit seiner Erfassung und sogar in den beiden vorangegangenen Jahren als einen inoffiziellen Mitarbieter, als GMS oder IM. Die von Anbeginn an durch diese beiden verantwortlichen MfS-Offiziere erfolgte abteilungsinterne Bezeichnung als IM oder GMS entsprach offensichtlich ihrer Wertung des Kontaktes zu Dr. Gysi. Sie ergab sich aus der Tatsache, daß sie von Dr. Gysi Informationen aus oppositionellen Kreisen erhielten und Möglichkeiten zur Beeinflussung von Oppositionellen sahen.

Da die genannten MfS-Offiziere Dr. Gysi über einen Zeitraum von ca. zehn Jahren als IM oder GMS bezeichneten, kann ausgeschlossen werden, daß es sich hier um irrtümliche Bezeichnungen handelt. Im übrigen wurden diese Bezeichnungen von beiden leitenden Offizieren aus der HA XX/9 auch unabhängig voneinander verwendet.

Es kann also davon ausgegangen werden, daß sich darin, unabhängig von der Erfassungsart als IM-Vorlauf „Gregor“ von 1980–1986 und gleich darauf folgend als OPK „Sputnik“, der inoffizielle Charakter einer zehnjährigen Zusammenarbeit der HA XX/9 mit Herrn Dr. Gysi ausdrückt.

5. Dr. Gysi war von der HA XX/9 von 1980 an „aktiv“ erfaßt, zuerst als IM-Vorlauf und danach in einer OPK. Damit hatte diese Diensteinheit für Dr. Gysi die „operative Verantwortung“ übernommen, in deren Rahmen er vom MfS genutzt und mit ihm zusammengearbeitet wurde. Weil er den Rechtsbeistand von Oppositionellen in der DDR übernommen hatte, erhielt er aus der Sicht der HA XX/9 offensichtlich eine große operative Bedeutung. Bezogen auf die jeweiligen Mandanten konnte nur er in diesem Zusammenhang bestimmte personenbezogene Informationen liefern, die für die HA XX/9 bei ihrem weiteren Vorgehen von besonderer Wichtigkeit sein konnten. Von daher erschien es im MfS offenkundig zweitrangig, daß Dr. Gysi nicht als IM verpflichtet und förmlich registriert wurde.

Inwieweit es bei dieser Sachbehandlung eine Rolle spielte, daß der HA XX/9 bereits seit Jahren Hinweise über „kritische“ Äußerungen von Herrn Gysi vorlagen, ist aus den Akten nicht zu klären. So informierte z. B. der Leiter der HA VII am 25. 08. 1979 den Stellvertreter von Minister Mielke, Mittag, daß „der Rechtsanwalt Gregor Gysi sich mit einer Eingabe an das Ministerium des Innern gewandt (hat), wo er die Rechtmäßigkeit einiger Maßnahmen gegen Havemann anzweifelt“ (s. S. 66, weiterer Beleg S. 336).

6. Mit den Decknamen „Gregor“ und „Notar“ versehene Informationen sind keineswegs Beleg dafür, daß lediglich eine Materialsammlung existierte, in der Informationen aus verschiedenartigen Quellen mit obigen Decknamen versehen und gesammelt wurden. Es gibt auch keinen Beleg dafür, daß die Dr. Gysi zugeschriebenen Informationen aus Abhörmaßnahmen stammen. Die Behauptung, hinter „Gregor“ oder „Notar“ verberge sich eine solche Materialsammlung, steht im Gegensatz zur Aktenlage sowie zu den beim Bundesbeauftragten vorliegenden Erkenntnissen zur Arbeitsweise der HA XX.

8. Der besondere Charakter der Zusammenarbeit zwischen Dr. Gysi und der HA XX/9 kommt auch darin zum Ausdruck, daß die HA XX/9 nicht für das Rechtsanwaltskollegium Berlin, dessen Vorsitz Herr Dr. Gysi 1988 übernahm, „operativ zuständig“ war. Diese Zuständigkeit oblag allein der Abt. XX/1 der Bezirksverwaltung (BV) Berlin, d. h. einer der MfS-Zentrale nachgeordneten Diensteinheit. Diese nachgeordnete Abteilung und nicht die HA XX/9 des MfS war verantwortlich für das – wie es im Sprachgebrauch des MfS hieß – „offizielle Zusammenwirken“ mit dem Rechtsanwaltskollegium Berlin.

9. Die „operative Zuständigkeit“ der Abt. XX/1 der BV Berlin wird z. B. dadurch unterstrichen, daß Herr Dr. Gysi bis September 1980, also bis er von der HA XX/9 als IM-Vorlauf erfaßt wurde, in einem sogenannten Sicherungsvorgang [Bei einem Sicherungsvorgang besteht vorrangig das Ziel, über Personen „vorbeugend“ Informationen mit „sicherheitspolitischer Relevanz“ zu erhalten.] der Abteilung XX der BV Berlin bereits aktiv erfaßt war, was deren operativer Zuständigkeit entsprach (s. S. 320).

Die dabei seinerzeit angefallenen Unterlagen sind bei der „Übernahme“ von Dr. Gysi durch die HA XX/9 am 22. 09. 1980 durch den MfS-Offizier Reuter für die IM-Vorlaufakte übernommen worden. Die obengenannte Erfassung in einem Sicherungsvorgang unterscheidet sich also deutlich von jener Erfassung durch die HA XX/9 des MfS, die für die Bearbeitung von Oppositionellen zuständig war, wie aus der IM-Vorlaufakte „Gregor“, zu entnehmen ist.

Diese Schritte, also die Übernahme von Dr. Gysi betreffenden Materialien der Abt. XX/1 der BV Berlin sowie die „aktive“ Erfassung von Dr. Gysi durch die HA XX/9 wären nicht erforderlich gewesen, hätten die MfS-Offiziere lediglich die Absicht gehabt, mit einem Rechtsanwalt Probleme offiziell klären zu wollen. Dies wäre bei Beachtung der Zuständigkeit der Abt. XX/1 der BV Berlin möglich gewesen, wobei die HA XX/9 dies dann allerdings nicht ohne Einwilligung [...] der zuständigen Diensteinheit Kontakte zu Dr. Gysi hätte tun können.

10. Andererseits hätte Dr. Gysi selbst die Möglichkeit gehabt, wenn er als Rechtsanwalt im Rahmen der anwaltschaftlichen Vertretung seiner Mandanten mit dem MfS etwas „offiziell“ zu klären beabsichtigte, sich an die zuständige Untersuchungsabteilung (HA IX) zu wenden [Nach § 88 der StPO der DDR war das MfS auch offizielles Untersuchungsorgan in Strafverfahren.] Wie aus den Absprachen zwischen Dr. Gysi und einem Mitarbeiter der HA IX (Zentrale Untersuchungsabteilung) im Zusammenhang mit Ereignissen in Güstrow hervorgeht, müßte ihm diese Möglichkeit und damit auch der Unterschied zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit der HA XX/9 bekannt gewesen sein.

11. Zudem muß Dr. Gysi aus seiner langjährigen Tätigkeit im Rechtsanwaltskollegium Berlin, zuletzt als dessen Vorsitzender, bekannt gewesen sein, daß die MfS- Offiziere Reuter und Lohr nicht die offiziellen Vertreter der Untersuchungsabteilung des MfS (HA IX) waren.