In höchster Erregung

Vom Narrentum zur Gummizelle: Eine Bestandsaufnahme zu Elastizität und Überwachung anläßlich der Dresdner „Gummi“-Ausstellung  ■ Von Dirk Ehrhardt

Im Jahre 1908 ist in Meyers Großem Konversationslexikon zu lesen: „Die Erfordernisse einer Irrenanstalt sind teils die eines Krankenhauses..., teils ergeben sie sich aus den speziellen Zwecken der Anstalt. (...) Die Zimmer müssen eine Einrichtung zur unbemerkten Beobachtung der Irren und Simulanten besitzen und alle Gelegenheiten zur Selbstbeschädigung der Kranken (Öfen, Türklinken, Fensterriegel, Haken, Nägel) möglichst ausschließen. Die Fenster werden in verschiedener Weise verwahrt, häufig aber nur mit Glas von solcher Stärke versehen, daß es ohne schwere Instrumente nicht zertrümmert werden kann. Abtritte und Badeanstalten erfordern besondere Einrichtungen, und für Tobsüchtige hat man Isolierzellen mit gepolsterten oder dick mit Kautschuk belegten Wänden, so daß die Irren sich nicht beschädigen können. (...) Lange Zeit hat man geglaubt, die freie Bewegung namentlich tobender Irrer durch Gewaltmaßregelungen beschränken zu müssen. Jetzt sucht man die Tobenden nur gleichsam gegen sich selbst zu schützen; im übrigen läßt man die Kranken, selbstverständlich unter sorgfältiger Beaufsichtigung, sich frei bewegen und wendet Zwangsapparate nur in äußersten Fällen an.“

Die Irren, von der staatlichen Bürokratie als Bedrohung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit definiert, hatten zwischen 1880 und 1910 um 429 Prozent zugenommen, obwohl die Bevölkerung in diesem Zeitraum nur um 48 Prozent stieg. Im Verlauf seiner Entwicklung bis zum Ende des 19. Jhdts. war das Irrenhaus ein furchteinflößendes Instrument in den Händen der für öffentliche Ordnung und Sicherheit zuständigen Staatsbeamten geworden. Aber es schien sich eine Wende anzubahnen. Die zunehmend demokratischere Öffentlichkeit verlangte nach modernen Methoden in der Behandlung der Irren. Schon mit Wilhelm Griesingers Lehrbuch „Pathologie und Therapie der psychisch Kranken“ hatte sich 1845 ein Paradigmenwechsel angekündigt, der durch die Hinwendung zur Organmedizin die psychisch Kranken endgültig zu Kranken im medizinischen Sinn erklärte.

Die mit Kautschuk ausgekleidete Gummizelle wurde nun zum Synonym für eine Modernisierung der Irrenpflege, weil Gummi als Werkstoff nicht nur Fortschritt, sondern auch einen neuen Typ von Rationalität symbolisierte, deren Beschreibung heute so klingt: „Gummi transformiert und verspannt die herrschenden Kraftfelder – bündelt und dämpft Energieströme, regelt wie von selbst die Wirkungen der Gravitation, von Unter- und Überdruck als Sauger, Pumpe, Dichtung oder Isolierung.“

Die Staatsbeamten aus Polizei und Justiz wollten den irren Bürger zwar vor sadistischen Übergriffen des Personals der Irrenhäuser durch Isolierung schützen, hatten aber gleichzeitig den Schutz vor Selbstbeschädigung als Argument gebracht. An der Rolle des zu behandelnden Objekts im Interesse staatlicher Ordnung und Sicherheit änderte sich deshalb wenig. Bei Zuständen höchster Erregung hielt der Apparat staatlicher Pflege die Isolation des als irre definierten Bürgers für angezeigt. Über die Gummizelle wird so ein neues Verhältnis zwischen Bürgern und Staatsbeamten zum Ausdruck gebracht: Der Staat als Organisation schützt jetzt im Interesse der Staatssicherheit Bürger voreinander und den (irren) Bürger vor sich selbst. Daß der Gedanke der Gefahr der Selbstbeschädigung im Zustand der Erregung im Kondom heute fortlebt, sei hier nur am Rande bemerkt.

Dabei hatte der staatlich angeordnete Schutz vor Selbstbeschädigung im sich duellierenden akademischen Establishment Deutschlands eine besonders abwertende Komponente. Für die Insassen von Anstalten bedeutete dies einen völligen Ehrverlust in den Augen der akademisch gebildeten, mit einem aristokratisch orientierten Wertekanon und in schlagenden Verbindungen erzogenen Ärzteschaft. Die neuen Formen der Irrenbehandlung schlossen den Selbstmord, als extreme Form der Selbstbeschädigung der Anstaltsinsassen, zunehmend aus, und die Anstaltsärzte wurden so potentiell Herren über Leben und Tod ihrer Klientel.

Die Wahrnehmung des als irre etikettierten Bürgers stützte sich zusätzlich auf die Theorie Darwins, die in ihrer sozialen Auslegung dazu geführt hatte, die biologische Hierarchie der Lebewesen als Hierarchie des menschlichen Wertes von Menschen unterschiedlicher Klassen, Stände, Nationalitäten und Rassen in der Gesellschaft zu akzeptieren. In der Gummizelle war das irrationale Gesellschaftstier eingefangen.

Der Anstaltsinsasse blieb, auch bei verändertem äußeren Anschein, Experimentiermittel in den Händen der Anstaltsärzte. Ihn hatten die Staatsbeamten als Außenseiter, egal ob Alkoholiker, politisch verdächtig, arm oder Landstreicher, ohne große Skrupel zum psychiatrischen Test freigegeben. Sie dokumentieren damit, daß jede Werteordnung Ausdruck einer Beziehungsordnung ist. Es erstaunt deshalb nicht, daß – trotz breiter Diskussion um das Irrenwesen in Deutschland – Rostocker Irrenärzte zwischen 1896 und 1912 den Zusammenhang zwischen „unsozialer Lebensführung“ und Geisteskrankheit anhand der Krankenakten eingelieferter Landstreicher untersuchten. Sich ganz und gar in den Dienst staatlicher Ordnungsaufgaben stellend und dabei ihre Aufgabe als Arzt für die Nöte kranker Menschen aus dem Auge verlierend, stempelten sie Landstreichertum prinzipiell zur geistigen Erkrankung. Der Außenseiter als Irrer blieb Objekt staatlichen Zugriffs.

Vor dem Beginn des Humanisierungsschubs in den psychiatrischen Anstalten um 1850 hatten die Vertreter einer „romantischen Psychiatrie“, Christian August Heinroth, Karl Wilhelm Ideler und Justinus Kerner, die Geisteskrankheiten als Krankheiten der körperlosen Seele in Folge der Sünde gesehen. Über Erschütterungen der Seele, so ihre Theorie, sollte durch Untertauchen in eiskaltem Wasser, Hungerkuren, die Folter mit elektrischem Strom usw. Heilung erfolgen. Diese Tradition belebt der Wiener Psychiater Julius Wagner von Jauregg qualitativ neu. 1917 durchbricht er als erster Psychiater der wissenschaftlichen Psychiatrie die Körpergrenze bei der Behandlung und dringt in das Körperinnere der Irren ein. Wagner von Jauregg infizierte Patienten, die an Spätfolgen von Syphilis litten, zur Erzeugung heilsamer Fieberkrämpfe mit Malaria. Für diese Methode, die er „Schocktherapie“ nannte, erhielt er 1927 den einzigen Nobelpreis, der jemals an einen Psychiater vergeben wurde. Von da an war die Psychologie ein Teilgebiet der Medizin.

Zur weiteren Legitimation von Experimenten an Kranken trugen zwei Forscher mit grundsätzlichen Überlegungen zur Bedeutung der Irren in der Gesellschaft bei: Die hochangesehenen deutschen Gelehrten – der Jurist Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche – veröffentlichten 1920 eine Arbeit mit dem Titel „Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“. In der Folge wuchs die Bedeutung der Schocktherapie im Irrenwesen. Manfred Sakel spritzte in den dreißiger Jahren seinen Patienten Insulin; Ladislaus Joseph von Meduna setzte 1933 Kampfer und später die weniger toxischen synthetischen Kampferpräparate Metrazol und Cardiazol ein, die epileptische Anfälle auslösten; und die Italiener Cerletti und Bini experimentierten ab 1937 mit Elektroschockbehandlungen an Schizophrenen. Im Zuge der Versuche seit Anfang der 30er Jahre, mit chirurgischen Eingriffen in das Gehirn Heilerfolge bei Irren zu erzielen, entfernten 1935 die Portugiesen Moniz und Lima Teile des Gehirns im Stirnbereich. Obwohl diese Behandlungsmethode wegen der fatalen Folgen aufgegeben werden mußte, wurde Moniz für die Operationstechnik 1949 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. So ebneten viele einzelne Schritte im Zeitverlauf den Weg für eine spezifische habituelle Ausprägung des Verständnisses von Professionalisierung unter den Irrenärzten Deutschlands. Eingeübt, Agenten staatlichen Ordnungs- und Sicherheitskalküls zu sein, fiel es ihnen leicht, sich in den Dienst nationalsozialistischer Rassenhygiene zu stellen. Inzwischen zu Medizinern im akademischen Sinn aufgewertet, erhielten ihre Experimente an Menschen die Aura wissenschaftlicher Forschung und die Ermordung von fast 100.000 Menschen im Nationalsozialismus den Nützlichkeitsaspekt der Befreiung des deutschen Volkskörpers von „Ballastexistenzen“. Die Nürnberger Ärzteprozesse 1948 dokumentieren die Selbstverortung vieler deutscher Ärzte in der Zeit des Nationalsozialismus, die in den Irrenanstalten schon 1934 den Hitlergruß eingeführt hatten.

Nach den Übergriffen der deutschen nationalsozialistischen Ärzte auf Geisteskranke und soziale Außenseiter sahen sich die Psychologen in aller Welt einem verstärkten Beobachtungsdruck ausgesetzt. Trotzdem spaltete sich dieses Denkkollektiv im Verlauf der Entstehung des Ost-West- Konfliktes nach dem zweiten mechanisierten Weltkrieg.

Vor dem Hintergrund der Psychoanalyse Sigmund Freuds, dessen Theorie im Nationalsozialismus verfemt war, entwickelte sich im Westen eine breite, vielperspektivische Diskussion. Die Enttabuisierung des Wahnsinns, samt seiner Behandlungsmethoden, in einer immer größeren Öffentlichkeit war und blieb hier der beste Schutz vor staatlichem Mißbrauch der Psychiatrie als Ordnungs- und Sicherheitsinstrument in den Händen von Staatsbeamten.

Obwohl die Geschichte der Psychiatrie der sozialistischen Staaten Europas noch geschrieben werden muß, läßt sich sagen: Den Partei- und Staatsfunktionären galt die Psychoanalyse als perfides Instrument der kapitalistischen Ausbeuter zur Ruhigstellung der im Kern revolutionären Arbeiterklasse des Westens und wurde totgeschwiegen. Der Staat, nach sozialistischem Verständnis seiner Funktionäre Waffe in der Hand der Arbeiterklasse, vertrat das Interesse der Mehrheit und stand erstmals in der Geschichte der Menschheit in Übereinstimmung mit den Gesetzen der historischen Entwicklung. Ihn zu schützen, die Staatssicherheit zu garantieren, weil dieser Staat die Rationalität der Geschichte manifestierte, rückte jede Kritik in das Zwielicht gezielter Verleumdung im Auftrag des allgegenwärtigen kapitalistischen Feindes oder der Mißachtung naturgesetzlicher Notwendigkeiten oder war eben hirnorganisch bedingt. Das zu ermitteln, wurde den Psychologen im Dienst des Ministeriums für Staatssicherheit übertragen.

Die letzte Gummizelle Berlins im Wortsinn benutzte denn auch das Ministerium für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik in der Haftanstalt Hohenschönhausen bis zum Herbst 1989. Verwahrt wurden darin Personen, die von den Vernehmern des MfS als feindliche Außenseiter des Staates verhört und von den Ärzten dort dem Verdacht der Selbstbeschädigung ausgesetzt waren.

Hier war das, was anderswo zur sprachlichen Symbolik vergangener repressiver staatlicher Ordnungs- und Sicherheitspolitik wurde, Realität geblieben. Noch 1994 war es nicht möglich, Öffentlichkeit darüber herzustellen, ein aktuelles Foto dieser Zelle wurde verweigert.

Am 9. Juni eröffnet „Gummi – die elastische Faszination“ im Deutschen Hygiene-Museum Dresden, in Kooperation mit dem Berliner Museum für Verkehr und Technik.