Kampf um kulturelle Anerkennung, Signum einer neuen Epoche

In den westlichen Staaten haben sich multiple kulturelle Identitäten herausgebildet, die in ihren fundamentalistischen Ausprägungen die Grundlagen demokratischer Gesellschaften unterlaufen  ■ Von Lothar Probst

Als die Mauer 1989 fiel und sich neue demokratische Verfassungsstaaten in Ostmitteleuropa herauskristallisierten, schien der Weg frei zu sein, zu einer neuen, supranational überformten Staatenordnung, die sich auf den Universalismus der westlichen Zivilisation einläßt. Doch in der Euphorie über den Sieg des östlichen Totalitarismus wurde die Dynamik alter und neuer Partikularismen in einer sich globalisierenden Weltgemeinschaft unterschätzt. Vor allem in den demokratisch wenig stabilisierten und ökonomisch schwach integrierten Zonen des Globus kam es nach 1989 zu einer neuen Welle blutiger Konflikte und Kriege, in denen in einer Art regressivem Umkehrschub alte archaische Muster der Gewaltanwendung den Sieg über die Prinzipien demokratischer Konfliktaustragung davonzutragen schienen. Auch die Hoffnung, durch die Konstituierung neuer Nationalstaaten dem Zerfallsprozeß der zwangshomogenisierten Gesellschaften der untergegangenen Sowjetunion und des ehemaligen Jugoslawiens neue Stabilität zu verleihen, hat sich angesichts der Vitalität kulturell, ethnisch und religiös fundierter Konfliktmechanismen als trügerisch erwiesen. Sowohl in einigen GUS-Staaten als auch auf dem Balkan sind die alten Grenzverläufe, jahrzehntelang von oben befestigt und abgesichert, heute in ständiger Bewegung. Permanenter Frontenwechsel, wechselnde Koalitionen und Feindschaften, Eroberung und Rückeroberung, Vertreibung und Wiederbesiedelung sind zum Kennzeichen einer völlig aus den Fugen geratenen Befreiung vom autoritären Zentralstaat geworden. Den jeweils aktuellen Grenzverlauf nicht zu kennen, sich zwischen oder hinter „invisible frontiers“ zu verirren, kann tödliche Folgen haben.

Doch sind Ethnizismus und Nationalismus, Desintegration und Partikularismus tatsächlich nur ein Problem zu wenig entwickelter, zu wenig moderner Gesellschaften, wie es in vielen Analysen behauptet wird? Der Fehler dieses Denkansatzes scheint mir darin zu liegen, daß Globalisierung und Partikularisierung, Stabilität und Desintegration, supranationale Vernetzung und kulturelle Eigensinnigkeiten als zwei gegenläufige, statt als zwei sich überlappende und ergänzende Tendenzen in der heutigen Weltgesellschaft gesehen werden. Im Wettstreit der amerikanischen Think Tanks bei der Ausarbeitung eines neuen Konfliktszenarios für das nächste Jahrhundert war es Samuel Huntington, Direktor des John M. Olin Institute for Strategic Studies an der Harvard University, der „weltweite Interaktionen“ und „subnationale Loyalitäten“ zum Ausgangspunkt seiner These vom „clash of civilizations“ gemacht hat. Dabei verkündet Huntington aber nicht wie Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“, sondern das Ende des Jahrhunderts der ideologischen Auseinandersetzung zwischen westlich liberalen Demokratien und Kommunismus. An die Stelle dieses Geschichte gewordenen Zentralkonflikts treten, so Huntington, Konflikte zwischen verschiedenen Zivilisationen, die sich kulturell, religiös und in ihrem Werteverständnis zum Teil fundamental voneinander unterscheiden.

Dabei richtet sich sein Interesse nicht nur auf islamisch fundamentalistische Bewegungen und Staaten, sondern auch und vor allem auf den asiatisch-pazifischen Raum, der einerseits längst Anschluß an die ökonomische Entwicklung der westlichen Kultur gefunden hat, andererseits seine eigene Zivilisation gegenüber den Zumutungen des westlichen Individualismus verteidigt.

Die These Huntingtons ist nicht nur in den USA, sondern insbesondere in Europa auf Widerspruch gestoßen, weil er sie mit einem klaren Bekenntnis zur aktiven Durchsetzung eines westlich liberalen Kultur- und Politikverständnisses verknüpft hat. Seine Kritiker werfen ihm deshalb vor, daß seine These lediglich die Legitimation dafür biete, „den Nord-Süd-Limes im Namen des Überlebens der demokratischen, freiheitlichen und kulturellen Werte des Nordens“ (Jean-Christophe Rufin) weiter auszubauen.

Tatsächlich besteht die Einseitigkeit von Huntingtons Analyse darin, daß er die Mitverantwortung des Westens für das „Zusammenprallen der Kulturen“ ausblendet. Durch ein fein gestricktes Geflecht aus unsichtbaren Grenzziehungen, Ausschließungen und institutionellen Drohungen (zum Beispiel im Rahmen von Weltbank, IWF und UNO) hat der Westen in der Vergangenheit selbst dazu beigetragen, daß sich der Anspruch des ökonomisch und politisch marginalisierten Südens auf Wahrnehmung, Mitsprache und kulturelle Anerkennung in der Weltgesellschaft nicht selten als religiöser Fundamentalismus manifestiert. Doch trotz dieses „blinden Flecks“ in Huntingtons Analyse ist sein Ausgangspunkt, nämlich die Beschreibung von Globalisierung und Partikularisierung als zwei sich überlagernde und polarisierende Tendenzen in der heutigen Weltgesellschaft, durchaus ein produktiver Ansatz, um den Kampf um kulturelle Anerkennung in und zwischen Gesellschaften besser zu verstehen.

Kritisch gegen Huntingtons These ist meines Erachtens vor allem einzuwenden, daß er sie lediglich für eine globale Neukonzeption der amerikanischen Außenpolitik entwirft, es zugleich aber an einer realistischen Diagnose der Binnenprobleme der westlichen Verfassungsstaaten mit Amerika an der Spitze vermissen läßt. Diese erscheinen in seinem Konzept quasi als Oasen der Stabilität, die in erster Linie von außen, durch andere Zivilisationen herausgefordert sind. Dabei ignoriert Huntington, daß das Modell des demokratischen Verfassungsstaates, das über verschiedene historische und gesellschaftliche Umbrüche hinweg das republikanische Zeitalter der letzten 200 Jahre geprägt hat, selbst von den Auswirkungen von Globalisierung und Partikularisierung im Kern betroffen ist, weil beide Tendenzen die Fundamente, auf denen dieses Modell gebaut ist – Nationalstaat, Volkssouveränität, Öffentlichkeit und Demokratie – untergraben. Kritische Beobachter der gegenwärtigen Entwicklung, wie der französische Politikwissenschaftler Jean-Marie Guéhenno, prophezeien bereits das Ende des Zeitalters der Demokratie und halten die Konzeption der Volkssouveränität nur noch für eine Fiktion, während die eigentliche Macht „längst in das gesellschaftliche Kapillarsystem diffundiere, wo sie permanent zirkuliere und sich jeder räumlichen Fixierung entziehe“ (Herfried Münkler).

Tatsächlich geraten territoriale Grenzziehungen, die die Identität demokratischer Verfassungsstaaten und den Raum der Volkssouveränität im traditionellen Sinne markieren, von zwei Seiten unter Druck. Zum einen gelingt es angesichts der technologischen und gesellschaftlichen Dynamik moderner Gesellschaften – repräsentiert durch die Internationalisierung ökonomischer Prozesse und die kommunikative Vernetzung der Weltgesellschaft in Echtzeit – immer weniger, die äußeren Grenzen des klassischen demokratischen Verfassungsstaates räumlich zu definieren. Zum anderen werden die traditionellen Grenzlinien und Identitätskonstruktionen innerhalb der noch bestehenden Nationalstaaten durch die Entwicklung multikultureller Gesellschaften quasi partikularisch unterlaufen und durch „neue Markierungen und attraktive Selbstdefinitionen“ (Claus Leggewie) wie „race, gender, ethnicity und minority“ ersetzt. Unter diesen Voraussetzungen wird es immer schwerer, die notwendigen funktionalen mit den fortschreitenden kulturellen Differenzierungsprozessen so zu harmonisieren, daß der Zusammenhalt der Gesellschaft gewährleistet bleibt.

Das Paradigma der „invisible frontiers“ auf globaler Ebene findet seine Entsprechung in den zerbröselnden Innenräumen der entwickelten westlichen Gesellschaften. Sich in amerikanischen und europäischen Metropolen zu verlaufen und als Ortsfremder die unsichtbaren Demarkationslinien rivalisierender Jugendgangs unwissentlich zu mißachten, kann genauso tödliche Folgen haben, wie in die Schußlinie eines serbischen „Sniper“ zu geraten.

Jenseits solcher extremen Situationen tendieren westliche Großstädte ähnlich wie Dritte-Welt- Metropolen immer mehr dahin, sich in geschützte und unsichere Viertel zu segmentieren, in „no- go-areas“ und „shopping-malls“, in abgeschottete Finanz- und Verwaltungsdistrikte und Orte der städtischen Verwilderung. Abrupte Wechsel und Übergänge zwischen verschiedenen „communities“ und „neighborhoods“ charakterisieren das unübersichtliche Dickicht moderner Großstädte. Diese Segmentierung der räumlichen Struktur symbolisiert die Zersetzung des öffentlichen Raums als Ort der diskursiven Begegnung gleichberechtigter und aufgeklärter Individuen, die durch Öffentlichkeit und Kommunikation zu Konsens und gemeinsamem politischen Handeln fähig sind.

Zugleich repräsentieren die westlichen Metropolen den entwickeltsten Typus multiethnischer, multikultureller Gesellschaften, in denen nicht mehr allein soziale, sondern vor allem kulturelle und „symbolische Konfliktlinien, Grenzziehungen und Gemeinschaftsbildungen“ (Bernhard Peters) die öffentiche Auseinandersetzung bestimmen. „Culture, gender, race und ethnicity“ sind in Amerika längst zu den Codewörtern neuer sozialer Bewegungen geworden, die um kulturelle Anerkennung und gesellschaftliche Geltung ringen.

Der Verweis darauf, daß es sich hier doch wohl vor allem um Phänomene der amerikanischen Gesellschaft handelt, ist trügerisch. Trotz der Versuche, die (west-)europäische Festung gegenüber den Wanderungsbewegungen aus Süd und Ost abzuschotten, sind auch die europäischen Metropolen längst auf dem Weg in die Unübersichtlichkeit multikultureller Gesellschaften. Der immer bunter werdende Flickenteppich aus sich überlappenden ethnischen Minderheiten und multiplen kulturellen Identitäten macht es zunehmend schwieriger, durch Öffentlichkeit im emphatischen Sinne des Wortes den Grundkonsens republikanischer Gesellschaften herzustellen. Im Gegenteil: Die Geltungsansprüche ethnisch-fundamentalistischer Gruppen und Bewegungen unterlaufen normativ und verfahrensrechtlich die politischen Grundlagen demokratischer Gesellschaften und ersetzen im schlechtesten Fall den öffentlichen Diskurs durch eine Konzeption der „Biologisierung von Politik“ (Agnes Heller), bei der von vorneherein bestimmte Regeln der Ausschließung und Ausgrenzung (nach Rasse, Geschlecht, Ethnizität) die Bedingungen der Teilnahme am Diskurs festlegen.

Eine Gesellschaftskonzeption, die die Politik der Differenz absolut setzt und weiter radikaliert, läßt aber Repräsentation nur noch als Selbstrepräsentation zu. Dies kann für demokratische Gesellschaften genauso zerstörerisch wirken wie eine Politik der radikalen Homogenität, weil „das Postulat der Differenz“ (Aleida Assmann) auch hier zur Waffe gegen Pluralität wird. Die Hoffnung, durch den Rekurs auf die Begrenzungen des Nationalstaates den Herausforderungen von Globalisierung und Partikularisierung begegnen zu können, verrät eher Hilflosigkeit als Perspektive. Als Folge der kulturellen Moderne haben sich unwiderruflich in allen entwickelten westlichen Verfassungsstaaten multiple kollektive Identitäten herausgebildet, die nur um den Preis der Aufgabe von politischem und kulturellem Pluralismus homogenisiert werden könnten.

Aber auch die plakative Beschwörung der multikulturellen Gesellschaft als Gegenmodell zum „Zurück zur Nation“ ist noch keine Antwort auf die Frage, wie „die Anerkennung ethnischer und lokaler Identitäten ohne neue Fundamentalismen sichergestellt“ werden kann (Hans-Peter Müller). Ein normativ anspruchsvolles Konzept von Demokratie und Öffentlichkeit muß dagegen überzeugend darlegen, wie unter den Voraussetzungen eines kulturellen Pluralismus alte und neue Formen sozialer Integration gestärkt werden können. Der Kampf um kulturelle Anerkennung in und zwischen den verschiedenen Regionen der Weltgesellschaft scheint tatsächlich zum Signum einer neuen Epoche zu werden. Dabei ist die Semantik tribalistischer, ethnischer, rassischer und nationaler Identitätskonstruktionen nicht, wie wir gerne glauben möchten, nur das Problem noch nicht ausreichend moderner Gesellschaften, sondern sie findet sich in abgewandelter Form auch in den „modernsten“ Gesellschaften wieder. In Amerika werden die Bedrohungen des Politischen durch die hier beschriebenen Tendenzen längst öffentlich diskutiert, in Europa dagegen beginnt man erst zögernd die neuen Gefährdungen zur Kenntnis zu nehmen.

Der Autor ist Politik- und Kulturwissenschaftler an der Universität Bremen