Wie es ist, eine Fledermaus zu sein

„Nie hast du dich einsamer vor dem Kasten gefühlt“ – Ein Bekenntnis zum Naturfilm  ■ Von Jörg Lau

Einmal habe ich an einem jener trüben westdeutschen Stadtparkweiher belauscht, wie ein vielleicht fünfjähriger Sohn einen Mann um die Vierzig fragte: „Papa, wärst du gerne ein Schwan?“ Darauf der Gefragte mürrisch, aber im Ton vernünftiger Zurechtweisung: „Man kann kein Schwan sein.“

Man kann nicht? Es gibt Gegenden auf der Welt, in denen diese Antwort als grober Unfug betrachtet würde. Und, ehrlich gesagt: Auch ich bin mir da auch nicht so sicher wie jener Erziehungsberechtigte. Das kommt womöglich von einer Leidenschaft her, der ich lange genug verschämt im Stillen nachgegangen bin: Ich bekenne, ich liebe Naturfilme.

Zum Lektürekanon des Philosophiestudiums gehörte ein Aufsatz eines amerikanischen Logikers, dessen Titel in die gleiche Richtung weist wie die Frage des kleinen Jungen: „What is it like to be a bat?“ Der Essay sucht umständlich zu beweisen, daß wir nie erfahren werden, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Mir ist nie verständlich geworden, woher das triumphale Gefühl sich speiste, mit dem der Logiker seine Beweisführung ausbreitete. Tolle Erkenntnis, daß wir zwar eine Welt mit der Fledermaus teilen, ohne aber je auch nur eine Ahnung davon haben zu können, was „in der Welt sein“ für eine Fledermaus heißt!

Wer nicht einen Funken Trauer darüber empfindet, dachte ich, mit dem ist etwas nicht in Ordnung. Interessant ist doch nicht eigentlich die Einsicht, daß wir womöglich in unser Wahrnehmungs- und Zeichensystem eingeschlossene fensterlose Monaden sind, sondern daß wir trotzdem (oder eben drum?) gerne wissen wollen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, und wenn uns auch Logiker und Erziehungsberechtigte noch so hartnäckig von der Sinnlosigkeit dieses Wunsches zu überzeugen suchen.

Um solches seltsame Begehren geht es im Kern bei allen Tierfilmen, mögen sie als reine Unterhaltung daherkommen oder staubtrockene Belehrung bieten. Und daher sei die steile These gewagt: der Tierfilm hat mehr mit der phantastischen Kunst zu tun als mit volkshochschulmäßiger Weiterbildung. In der phantastischen Kunst geht es nämlich, wie der schwedische Romancier und Essayist Lars Gustafsson anhand der Romane Jules Vernes gezeigt hat, um die mit Angstlust verbundene Vorstellung einer Ordnung jenseits der des Menschen.

In den besten Tierfilmen neuerer Produktion – die BBC ist auf dem Gebiet weiterhin unschlagbar – geht es nicht mehr um die Verniedlichung und Vermenschlichung der Natur, um das alte Bienchen-und-Blümchen-Schema. In den anspruchsvolleren Produktionen ist vom alten Antropomorphismus keine Spur mehr. Hier wird die Natur nicht mehr verkitscht. Das würde bei einem Publikum auch nicht mehr ankommen, das schließlich seit über zwanzig Jahren trainiert wird, Natur als etwas vom Menschen Gefährdetes wahrzunehmen. Die „Schrecken der Nahrungsketten“ (Norbert Elias) sind in heutigen Dokumentationen ebenso unabgemildert zu bewundern wie etwa die schmerzhaften Paarungsrituale der Wölfe; und das Irritierende der phantastischen kollektiven Intelligenz etwa eines Termitenvolks wird nicht mehr durch vorschnelle Analogien weghumanisiert.

Der Faszination ist dabei oft ein Grauen beigemischt, ganz ähnlich dem, das die phantastische Kunst erzeugt. Der Tierfilm eröffnet Blicke in Welten, die von uns nichts wissen – ein Korallenriff, eine Pinguin-Kolonie, das unterirdische Leben der Würmer, und dabei erscheint plötzlich die Welt als „ein Ort, wo der Mensch nicht zu Hause ist, wo er aus Versehen gelandet ist und dessen Anordnungen und Triebkräfte er deshalb auch nie verstehen oder überblicken wird.“ (Gustafsson)

Diese Wirkung wird verstärkt durch ein Motiv, das heute jeder bessere Naturfilm mehr oder minder stark variiert: Abschied, good- bye to all this. Schaut her, noch gibt es all dies, noch ziehen die Lachse gegen den Strom zu den Laichplätzen, noch fischen die Bären in den Stromschnellen, noch singen die Wale. Aber vielleicht schon bald ... Die Wälder singen eben nicht mehr ewig; die Zeit des Naturfilms ist eine Zwischenzeit, die von den für seine Rhetorik unentbehrlichen beiden Worten „noch“ und „schon“ markiert wird.

Das ZDF beginnt bald mit der Ausstrahlung einer neuen Staffel der Naturdokumentationsreihe „Naturzeit“. In der Pressemappe lesen wir: „Ein Ziel der neuen Staffel ist es, auf Tierarten zu verweisen, die – erst in jüngster Zeit entdeckt – in ihrer Existenz bedroht sind. So zum Beispiel der Quastenflosser vor den Komoren, die Lemuren auf Madagaskar und das Baumkänguruh in Papua-Neuguinea. Durch spezielle Anpassungen und durch die isolierte Lage ihrer Lebensräume haben sie für uns unbemerkt im Verborgenen gelebt. Das Ergebnis der letzten Forschungsreise des Meeresbiologen Prof. Hans Fricke war alarmierend: Die neuesten Zählungen ergaben, daß die Population des Quastenflossers kurz vor dem Zusammenbruch steht.“

Der Quastenflosser ist ein emblematisches Tier, an dessen Schicksal sich die beiden Naturfilmmotive „Entdeckung“ und „Bedrohung“ besonders dramatisch durchspielen lassen. Nicht allein, daß er Millionen Jahre in großer Tiefe gelebt hat, ohne daß wir voneinander wußten (man glaubte, er sei vor 75 Millionen Jahren ausgestorben); er ist das Bindeglied zwischen Wasser- und Landwirbeltieren, mithin ein kosmologisches Schwellenobjekt: „Aus dieser Fischgruppe gingen schließlich alle Landwirbeltiere hervor – sie hatten den ersten Schritt ans Land gewagt –, ein für die Evolution ganz bedeutender Schritt.“ Der Einblick in Welten jenseits der unseren, die vielleicht schon bald verschwunden sein werden – nie hast du dich einsamer vor dem Kasten gefühlt als beim Anschauen solcher Bilder.

Welten jenseits der unseren? Das ist natürlich nur die halbe Wahrheit über den Naturfilm, nicht nur deshalb, weil diese Welten möglicherweise durch unsere Einwirkung verschwinden. Wir sind ja selbst noch mit dem Quastenflosser verbunden, der uns hier als Sproß eines mutigen Pioniergeschlechts vorgestellt wird, das den Schritt an Land „gewagt“ hat, ohne den wir ... Kein Wunder, daß sich bei solchem Unternehmeresprit unterdessen selbst die Weltbank für das Tier einsetzt, wie das ZDF vermeldet.

Der Tierfilm spricht von der Natur „da draußen“ in den Meeren, Dschungel, Steppen, Wüsten. Und während wir uns dorthin mitnehmen lassen – und sei es auch in 200 Meter Tiefe im Indischen Ozean, wo der Quastenflosser ein paar Millionen Jahre lebte, bevor Prof. Fricke ihm einen Sender einpflanzte, um seinen Tagesablauf zu erforschen – sind wir mit dem Tier in uns beschäftigt. Unbemerkt wie der Quastenflosser, überlebt im Tierfilm – ungeachtet seiner rein naturwissenschaftlichen Herleitungen – ein theologisches Motiv, die Frage nach unserer Kreatürlichkeit. Oder, um es in den Worten eines unserer besten jungen Dichter zu sagen:

„O weh, diese Trauer, geboren zu sein und nicht als Tier.“ (Durs Grünbein, „Einem Schimpansen im Londoner Zoo“)