Sanssouci
: Vorschlag

■ Variationen zum Thema Sitzen: "Stuhlungen" im Schlot-Theater / Nachschlag * "Wir Hinterbliebenen": Kabarett als Gedenkveranstaltung

Der moderne Ikarus ist blau. Der Motorradhelm auf dem Kopf, der weite Mantel, die Hosen, die Schuhe: alles blau. Seine Flügel hat er eingetauscht gegen eine Art Thron: ein klappriger, aus Schrotteilen zusammengebauter Stuhl. Womit wir beim Thema wären.

„Stuhlungen“ heißt das Stück, das die abwechselnd in München und Umbrien lebende Ausdruckstänzerin Margherita Scaturati derzeit im Schlot-Theater in der Prenzlberger Kastanienallee auf die Bühne bringt. Die „Tanz-Bild-Stuhlobjekt-Sonate“ zerfällt genaugenommen in zwei Hälften: im ersten Teil tritt ein rundes Dutzend phantasievoll geschminkter, mythischer Gestalten auf, die miteinander, gegeneinander, aneinander vorbei Variationen zum Thema „Sitzen“ tanzen. Ein Faktotum im roten Frack begleitet uns: Ort des Geschehens sind der Hinterhof und das Treppenhaus der Kastanienallee 29. Die Vogelfrau wird zum Fakir und meditiert in Lotusstellung, die schwarze Hexe schreit und tobt, Ikarus lehnt sich in blindwütiger Aktion gegen das Unvermeidliche auf. Er muß scheitern wie die gute Fee, das Burgfräulein und all die anderen Mitspielerinnen und Mitspieler. Sie kommen über schlaglichtartig pointierte Szenen nicht hinaus, ein zwingender Zusammenhalt der einzelnen Bilder ist zum Leidwesen des Publikums nicht vorhanden.

Im zweiten Teil des Abends agiert Margherita Scaturati alleine. Sie, die seinerzeit dem Landestheater Hannover den Rücken kehrte und seit 1973 als Autorin und Darstellerin eigene Stücke produziert, ist die Raupe, die – dem selbstgewählten Motiv der „Verwandlung“ entsprechend – im Lauf der folgenden Dreiviertelstunde zum Schmetterling mutiert. Obwohl eher konventionell choreographiert, hat diese Transformation durchaus poetische Momente: Ganz zu Anfang etwa, wenn Scaturati im weißen Raupenkostüm beginnt, sich langsam aus der Larvenstarre zu lösen.

Doch diese Augenblicke bleiben eine Seltenheit. Bald macht sich gepflegte Langeweile breit. Ein übriges erledigt das Bühnenbild des Berliner Kunst- und Theaterpädagogen Michael Kaiser. Der kleine Bühnenraum ist vollgestellt mit großen, opulenten Materialassemblagen. Die bizarr angeordneten, zerbrochenen Spiegel, die Holzkästen voller Musikinstrumente: sie erinnern an kubistische Gemälde, sonst tun sie nichts zur Sache. Sie sind so beliebig, wie es der erste Teil der Stuhlungen war, viel Aufwand, wenig Wirkung. Fazit: Den „großen Erfolg“, den Scaturatis Aufführung im letzten Herbst in der UfA-Fabrik feierte, konnte sie hier nicht wiederholen. Spärlicher, gnädiger Applaus zum Schluß. Ulrich Clewing

„Stuhlungen“ von Margherita Scaturati. Regie: Evelyn Rosemann. Weitere Vorstellungen 25.–28. Mai, jeweils 19.30 Uhr, Schlot-Theater, Kastanienallee 29, Prenzlauer Berg.

Nachschlag„Wir Hinterbliebenen“: Kabarett als Gedenkveranstaltung

Nach den 13 Jahren des verordneten Schweigens schossen sie wie Pilze aus dem Boden: Über tausend Anträge auf Erteilung einer Kabarett- Konzession mußten die alliierten Behörden bearbeiten, im Trümmer-Berlin des Jahres 1945. Alles, was an Autoren noch im Land geblieben war, griff wieder zur spitzen Feder. Volker Kühn hat all das zusammengesammelt, was in den ersten Nachkriegsmonaten aufs Brettl kam. „Wir Hinterbliebenen“ hieß das Doppelprogramm im Kesselhaus der Kulturbrauerei, das im Rahmen der Veranstaltungsreihe „50 Jahre Frieden in Deutschland“ an fünf Abenden gespielt wurde. Nicht nur eine Hommage an die Verbotenen und Emigrierten, an die trotzigen Schreiber und Komponisten der ersten Stunde wollte das Programm sein, auch die großen Figuren des Nachkriegskabaretts sollten geehrt werden. Entsprechend prominent war die Besetzung: Neben der ersten Garde der SchauspielerInnen aus dem Umfeld des Deutschen Theaters wie Jutta Wachowiak standen der greise Erwin Geschonnek und Brecht-Diseuse Gisela May mit auf der Bühne.

Die Stunde Null war auch eine ohne Texte. Die sprachlosen Jahre wurden deshalb mit dem Stoff von vorgestern aufgearbeitet. So passierten im ersten Teil noch einmal die weitsichtigen Szenen Revue, die Erika Mann für ihre Pfeffermühle geschrieben hatte – wie auch die von Mehring, Tucholsky, Kästner und all den anderen. Da geht es um die Situation kurz vor den letzten freien Wahlen, um Flucht, Gefangenschaft und wie schließlich alles zum bitteren Ende kam. Kühn kennt seinen Stoff und führt deshalb die eher unbekannten Seiten der bekannten Autoren vor. Im zweiten Teil wird es dann reichlich schlaglichthaft. Von Borchert bis Valeska Gert reichen die Schreiber, vom Kriegsheimkehrer bis zum neureichen Schieber die Figuren. Die Nummern hängen nur noch lose aneinander, von den Schauspielern ohne Pathos, aber auch ohne erlösenden Witz über die Rampe befördert. Es sollte wohl eine Revue-Collage mit Bezügen zur Gegenwart werden, doch so weit kam der Arrangeur und Regisseur auf seiner braven Spurensuche in Sachen Kabarett nicht. Kühn leistete eher eine behutsam-bedächtige Rückschau, die den Zuschauer mit erlebter Vergangenheit konfrontierte. Eine Gedenkveranstaltung eben. Gerd Hartmann