■ Die japanische Aum-Sekte wäre auch im Westen möglich
: Die gefährliche Avantgarde der Gurus

Machen wir uns nichts vor: In der Schweiz wurde kürzlich eine „Ufoglaubensgemeinschaft“ gegründet, und der Stern entdeckte unlängst in Krefeld die „Gylfiliten“, eine Gruppe Heiden um den rechtsradikalen „Astronomen“ Wolfgang Kantelberg, die einen neuen Religionskrieg unter Odins Führung aus dem Weltraum voraussagt. Insofern könnte die Auseinandersetzung, zu der sich derzeit Staat und Gesellschaft in Japan mit der buddhistischen Aum-Shinrikyo- Sekte gezwungen sehen, ein Lehrbeispiel für alle Industrienationen werden.

Vielleicht ist nach der Verhaftung des japanischen Sektenführers Shoko Asahara die unmittelbare Gefahr weiterer Anschläge im Inselreich vorerst gebannt – doch genau da darf die Diskussion nach Ansicht von Soziologen und Religionswissenschaftlern jetzt nicht aufhören. Ein genaueres Hinsehen, selbst bei harmlos anmutenden Gruppen, lohnt zweifellos. Nicht das Einzigartige, sondern das Gewöhnliche in der Vorstellungswelt der Aum-Sekte macht diese Gruppe ja so interessant. Vom Weltuntergang reden die Gurus tatsächlich in aller Welt. Ihn sich anhand der unter Jugendlichen weitverbreiteten Ideen aus Comics und Videospielen religiös auszumalen, darüber Bücher zu schreiben und eigene Videotrickfilme zu drehen – das war nun der Zaubertrick des Shoko Asahara, mit dem er in Japan innerhalb von zehn Jahren zehntausend Anhänger anlockte, darunter viele hochbegabte Universitätsabsolventen.

Gerade die sich um den Guru scharende Intelligenz verwirrt dabei in Japan viele ältere Zeitgenossen. Doch verläuft dort die jüngste Ideologiegeschichte in den großen Zügen nicht anders als bei uns: Während sich die Vietnam-Generation politisch und sozial zu engagieren wußte, die ihr folgende Generation noch in mancher alternativen Nische ihren Lebenszweck fand, erlebten die Studenten der neunziger Jahre ein gähnendes ideologisches Vakuum. Gerade das neue, selbständigere Denken vieler junger Japaner machte sie – in Abwesenheit von Alternativen – für die Botschaften des Shoko Asahara empfänglich.

Tatsächlich können die Gesellschaftswissenschaftler in Japan wie im Westen derzeit nur ahnen, was sich da in vielen Köpfen im Bewußtsein realer, aber unverarbeiteter ökologischer und atomarer Katastrophenszenarien unter dem Einfluß vorgetäuschter übermenschlicher Kräfte und Technologiebeherrschung durch die neuen Sekten zusammenbraut. Guru Asahara aber wird nicht der letzte gewesen sein, der das alte religiöse Versprechen vom Seelenheil im Weltuntergang in ein modernes virtuelles Kleid wickelte.

Für die Japaner ist mit der Entdeckung des neuen Sektenterrors die Überschaubarkeit und Berechenbarkeit ihrer Gesellschaft unwiderruflich verloren gegangen. Gerade das Aha-Erlebnis der Älteren, die von den Sektenaktivitäten der Jüngeren lange Zeit nichts begriffen, entlarvt eine gewisse Rückständigkeit des gesellschaftlichen Selbstverständnisses. Aber auch hier ist Japan von Deutschland nicht weit entfernt.

Zwar mögen „autoritäre Anderswelten zur Demokratie gehören wie der Schatten zur Sonne“ – so der Religionswissenschaftler Georg Schmid –, doch zufrieden geben kann sich damit keiner. Georg Blume