Keine Lust, kein Sex, keine Jagd

■ Jan Lauwers' zweiter Teil der „Snakesong“-Trilogie im TAT

Leda wurde vom Schwan vergewaltigt. Der Schwan war Gott. Gott ist ihr Zeuge. Schon ist Leda ein Fall für die Inquisition. Ganz filigran im irisierenden Paillettenkleid wippt Leda vor und zurück und verteidigt auf einer leeren, schwarzen Bühne ihre animalische Lust auf Schwäne, auf italienisch.

Sie heißt Carlotta Sagna, und weil sie kaum einer versteht, wird sie von Ina Geerts gedolmetscht, während Matthew Weimer ins Englische übersetzt, damit Franco di Francesantonio als göttlicher Schwan der Leda wiederum etwas auf italienisch ins Gesicht brüllen kann. Auf der Bühne: europäische Verhältnisse „kurz vor dem Ende der prähistorischen Zeit“, noch mitten im Matriarchat. Königin Mutter, statuarisch in schwarzer Samtrobe, fragt: „Hat sie den Beischlaf mit dem Schwan genossen?“ „Si, yes“, stammelt Carlotta Sagna mit feiner Stimme. Di Francesantonio brüllt, schnappt nach Luft, explodiert. „Non, no“, gesteht das Opfer animalischer Lust. Auch gut. Das hohe Gericht unterbricht die Verhandlung. Die Queen hat sich einst vielleicht vorzüglich auf alle inquisitorischen Fragen der Lust verstanden. Nun bevorzugt sie einen Drink.

Der flämische Regisseur Jan Lauwers ließ für das Brüsseler „Kunstenfestival“, das „Dance 95“-Festival in München und das TAT in Frankfurt ein Schwur- und Schwatzgericht zusammentreten, das das mythologische Treffen zwischen Leda und dem Schwan verhandelt, ohne sich für das Ergebnis zu interessieren. Lauwers fasziniert nur das Motiv, wie zuvor die alten Maler: Correggio, da Vinci, Tintoretto – alle konzentrierten sich ganz auf die Lust der Leda. Es gibt Hunderte von Gemälden, Salonmalereien und Gravuren, die nichts von einer Vergewaltigung der Leda wissen, die den Krach im Hause Sparta ignorierten und sich nicht kümmerten, wie Leda ihre Götterkinder Helene, Kastor und Polydeukes austrug. Möglicherweise hat sie Eier ausgebrütet.

All das tut nichts zur Sache. Die Verhandlung wird fortgesetzt: Hat Leda geblutet? Starb sie? Ging sie in Flammen auf? War es ein schönes Feuer? „Soviel Feuer hatte sie vorher nie.“ Alle plärren. Die Queen tritt ans Mikrophon, schreit Silentium. Die Schauspieler der Antwerpener „Needcompany“ um Jan Lauwers machen keine erschrockenen Gesichter, wie es deutschen Schauspielern in derlei Situationen zu eigen wäre. Sie geben Ruhe, lockern sich, schütteln sich, richten ihr zerzupftes Haar wieder her, konzentrieren sich.

Nächster Satz, neues Thema in der Fuge. Der Text, den Lauwers schrieb, ist Komposition, die Schauspieler seine Instrumentalisten. Das ständige Übersetzen der Texte aus und in das Italienische und Englische bildet buchstäblich ein Ritornando; das Insistieren auf immergleiche Fragen ergibt das musikalische Thema.

Eine Oper. Sie wird brüllend durch Rombout Willems hervorragende Komposition für Mezzosopran und Klavier eingeführt. Ein Tanztheater. Das Stück beginnt, indem eine Frau sich von einer männlichen Puppe vögeln läßt. Ein Schauspiel. Nach der Inszenierung von „Le Voyeur“ vor einem Jahr hat Jan Lauwers mit gleicher, doch erheblich verbesserter musikalischer Methode diesen zweiten Teil seiner „Snakesong“-Trilogie – „Le Pouvoir“, die Macht – zum glanzvollen Ereignis werden lassen.

„Le Pouvoir“ ist inspiriert vom französischen Anthropologen Georges Bataille. In den „Tränen des Eros“ beschreibt er eine prähistorische Höhlenmalerei aus Lascaux, die einen sterbenden Bison mit herausquellenden Gedärmen zeigt. Das verletzte Tier überragt den Jäger, der mit erigiertem Schwanz unter dem blutenden Bullen liegt. Die ganze sexuelle Erregung des Tötens, die lüsterne Beziehung zum Tier, der Sex, alles ist da. Doch wir jagen nicht mehr, sagt Lauwers.

„Irgendwo in Antwerpen, tausend mal zehntausend Jahre“ nach Ledas Begegnung mit dem Schwan ist der Jagdtrieb verloren. Die Zoophilie steht unter Strafe. Durch tausend mal zehntausend Inquisitionen auf der Suche nach Schuld und Opfer verkümmerte der Trieb zum hysterischen Partytalk. Auf der Bühne versammeln sich sechs Schauspieler. Leda ist ein Hausmädchen geworden. Sie schlief mit dem Freund der Tochter des Hauses. Dabei wurde absurderweise die Tochter schwanger. Minutenlang flennt sie. Die Mutter in schwarzen Dessous stirbt stehend in opernhafter Kadenz, redet: „Ohne Schmerzen kein Wissen von der Lust.“ Aus den triebbestimmten Opfern der Inquisition sind traurige Tragöden geworden, die ihr Begehren nur noch in der Möglichkeitsform ertragen. Lust, Jagd, Sexualität wurden durch das immerwährende Sprechen so lange verhandelt, bis es keine Lust, keinen Sex, keine Jagd mehr gab. Nur noch solche wunderbaren Inszenierungen über Lust, Sex, Jagd. Arnd Wesemann

„Le Pouvoir“ noch bis Sonntag im TAT, Frankfurt.