Offener Brief der Personalvertretung der Deutschen Lufthansa an Günter Wallraff

Gruppenvertretung Stewardessen/Stewards

Gruppenvertretung Purseretten/ Purser

Gesamtvertretung des Fliegenden Personals

Und Konzernvertretung des Fliegenden Personals

Frankfurt, 17. Mai 1995

Betr.: Anzeige des German Salman Rushdie Defence Commitee's

c/o Günter Wallraff „Wir fliegen nicht mehr Lufthansa“

Mit großer Bestürzung haben wir den Boykottaufruf des German Salman Rushdie Defence Committee's c/o Herrn Günter Wallraff in vielen Zeitungen der Bundesrepublik Deutschland mit der Überschrift „Wir fliegen nicht mehr Lufthansa“ gelesen.

Es ist uns ein Anliegen, stellvertretend für das Kabinenpersonal bei der Deutschen Lufthansa AG, öffentlich zu bekennen, daß wir hinter der Entscheidung unseres Managements stehen, Herrn Salman Rushdie an Bord der Lufthansa-Passagiermaschinen nicht zu befördern!

Wir achten und respektieren Herrn Salman Rushdie und bewundern seinen Mut, einem Regime zu trotzen und dabei sogar das eigene Leben zu riskieren. Wir wissen sehr gut, daß von Herrn Salman Rushdie keinerlei Gefahr ausgeht, sondern von denen, die ihn mit dem Tode bedrohen.

Herr Wallraff und die 200 Erstunterzeichner führen in ihrer Anzeige nun aus, daß sie sich nicht zu Komplizen einer Duldungs- und Schweigenspolitik machen wollen.

Herr Wallraff und die 200 Erstunterzeichner sind bekannt. Sie sind auch bekannt als Menschen, die sich in der Vergangenheit und in der Gegenwart immer für die Verfolgten und Benachteiligten unserer Gesellschaft eingesetzt haben. Sie haben dies getan, um Unrecht zu bekämpfen.

Könnte es nun sein, daß Herr Wallraff und die 200 Erstunterzeichner – vielleicht unüberlegt und voreilig – ein Unrecht zu bekämpfen versuchen und dabei übersehen, daß sie gleichzeitig ein anderes begehen?

Tag für Tag befördert die Lufthansa an Bord eines innereuropäisch verkehrenden Flugzeugs zwischen 100 und 180 Passagieren unter der Obhut von ca. 5 bis 9 Besatzungsmitgliedern. All diese Menschen vertrauen sich einer Fluggesellschaft im Glauben an die versprochene und auch garantierte Sicherheit an.

Es entbehrte jeglichen Verantwortungsgefühls einer Luftverkehrsgesellschaft, setzte sie Passagiere und Besatzung in höchst fahrlässiger Art und Weise einem in der Tat unkalkulierbarem Risiko aus – zumal dies ohne Wissen und Möglichkeit einer Entscheidung dieser Menschen geschähe.

Herr Wallraff und die 200 Erstunterzeichner müssen sich fragen lassen: Ist es nicht sehr einfach, ein Papier zu initiieren und zu unterzeichnen, um sich von der möglichen Schuld einer feigen Duldungs- und Schweigenspolitik zu befreien?

Ist es nicht sehr einfach, die Lufthansa durch den Boykott zur Beförderung des Herrn Rushdie zwingen zu wollen und damit die Beweislast des daraus resultierenden „Heldentums“ anderen, nicht beteiligten, sagen wir ruhig einmal unschuldigen Menschen zu übertragen – ahnungslosen Passagieren und den unter der Fürsorgepflicht der Lufthansa befindlichen Besatzungsmitgliedern?

Ist es nicht ungleich schwerer, eine unpopuläre Entscheidung zu treffen und nein zu sagen, weil dem Management der Deutschen Lufthansa AG die Verantwortung für Passagiere und Besatzungen kein Herr Wallraff oder irgendein anderer Mensch abnehmen kann?

Herr Wallraff und die 200 Erstunterzeichner müssen sich weiterhin fragen lassen, ob sie wissend verschweigen, daß auch andere Airlines in Europa – KLM, SAS und BA – die Beförderung Salman Rushdies ablehnen und ob sie ebenso vorsätzlich nicht die politischen Hintergründe beschreiben, die die Air France zur Beförderung zwingen?

Beraubt sich Herr Wallraff nicht seiner Glaubwürdigkeit, wenn er vorgibt, sich gegen eine Schweigenspolitik zu engagieren, jedoch für sich behält, daß die Lufthansa sehr wohl die Beförderung in einem ihrer Schulflugzeuge angeboten hat und daß Herr Rushdie dies ablehnte?

Wenngleich die Sucht nach Aufmerksamkeit um jeden Preis nicht bewiesen werden kann, so erheben wir dennoch den Vorwurf einer unverantwortlichen Gleichgültigkeit.

Wie müssen Menschen beschaffen sein, die eine derart sensible Angelegenheit zum Mittelpunkt einer öffentlichen politischen Diskussion machen?

Daß jegliche Publizität einen weiteren Sicherheitsfaktor darstellt, das wissen unzweifelhaft alle an diesem Boykottaufruf Beteiligten. Dennoch brüsten sie sich mit ihrem Engagement für einen zu Unrecht Verfolgten und mit dem Tode Bedrohten, zeigen sich jedoch gleichzeitig absolut taub und desinteressiert allen anderen Menschen gegenüber. Sie geben vor, ein „Opfer“ zu schützen, und riskieren ohne Zögern mögliche Opfer unter völlig Unbeteiligten. Muß man diese Art von Engagement wirklich bewundern und unterstützen?

Kein einziger unserer Passagiere hat die Möglichkeit der Entscheidung, die Gefahr auf sich zu nehmen, sie zu negieren oder ihr wissend ins Auge zu blicken. Und wer glaubt, daß z.B. eine Mutter mit ihren Kindern gelassen an Bord einer Lufthansamaschine säße, wenn sie wüßte, daß ein von grausam vorgehenden Fundamentalisten bedrohter Mensch ebenfalls an Bord ist, der versteht nichts von Menschen. Auf keinem einzigen Flug der Lufthansa könnte sie sich so recht sicher fühlen, weil ja alle Flüge potentiell bedroht wären.

Und wer glaubt und erwartet, daß die Gesamtheit des Kabinenenpersonals aus „Helden“ à la Wallraff besteht – dann vergeben Sie uns bitte: Wir sind normale Menschen mit Familien. Wir sind nicht alle zu Märtyrern geboren wie Herr Wallraff und die 200 Erstunterzeichner.

Im Gegenteil, unsere Aufgabe an Bord ist es sogar, Gefahren für Leib und Seele der uns anvertrauten Passagiere zu vermeiden und abzuwenden, somit gar nicht erst in Situationen zu kommen, die Helden notwendig machen.

Wir Flugbegleiter lieben unseren Beruf und hoffen allesamt inständig, niemals an Bord bei einem Flugzeugunglück vor die Wahl gestellt zu werden: Rette ich einen Passagier oder rette ich viele? Ist die klare Entscheidung, erst die vielen, dann den einen, wirklich moralisch verwerflich?

Was, so stellen wir einmal ganz deutlich die Frage, bedeutet das Recht auf Freizügigkeit eines Einzelnen, verglichen mit dem Recht auf Leben von Hunderten von Menschen? Ist auch diese Frage verwerflich?

Für sehr viel verwerflicher halten wir es, plakativ ein Heer von uneingeweihten Passagieren gleichsam wie Soldaten auf einen möglichen Kriegsschauplatz zu jagen, nur um sich selbst außerhalb jeglicher Gefahrenzone irgendein großes Verdienstkreuz anzuheften.

Nicht ganz unerwähnt möchten wir lassen: Folgten die mit Lufthansa fliegenden Passagiere dem Boykottaufruf des Herrn Günter Wallraff, so wären möglicherweise erneut Arbeitsplätze beim Personal der Deutschen Lufthansa gefährdet, die gerade erst in einem zwischen Personal und Management gemeinsam erarbeiteten Kraftakt gesichert wurden.

Aber was bedeuten schon Arbeitsplätze im verbalen Kampf gegen eine Duldungs- und Schweigenspolitik?

Mit der Überzeugung, daß auch Herr Salman Rushdie nicht einverstanden ist mit der Aktion des Herrn Wallraff und im Vertrauen darauf, daß unsere Passagiere gerade aufgrund der Entscheidung unseres Managements weiterhin unbelastet mit uns fliegen

verbleiben wir mit freundlichen Grüßen

Die Gruppenvertretung der Stewardessen/Stewards

Jutta Hillmayer (Vorsitzende)

Uwe Hien (stellvertr. Vorsitzender);

die Gruppenvertretung der Purseretten/Purser

Brigitte Benkelberg (Vorsitzende)

Manfred Schmid (stellvertr. Vorsitzender)

sowie für die Gesamtvertretung des Fliegenden Personals

Peter Geisinger (Vorsitzender)

Sabine Strohmer (stellvertr. Vorsitzende)

für die Konzernvertretung des Fliegenden Personals

Lutz Tuchscheerer (Vorsitzender)

PERSONALVERTRETUNG

DEUTSCHE LUFTHANSA

AG