5.000 Granaten an einem Tag

Am Posavina-Korridor in Nordbosnien wird der Krieg entschieden / Serben greifen die Region an / Bosnisch-kroatischer Gegenangriff?  ■ Aus Orašje Erich Rathfelder

Langsam werden die blumengeschmückten Särge zum Portal der Kirche getragen. Nur vereinzelt ist ein Schluchzen aus der Menge zu hören, die die fünf Toten auf ihrem letzten Weg begleitet. Gefaßt und ruhig erweisen die Frauen in ihren schwarzen Trachten und die Männer in ihren Uniformen jenen die letzte Ehre, die am letzten Montag in dem bosnisch-kroatischen Dorf Donja Mahala getötet worden sind. Im Hintergrund grollt die serbische Artillerie, es klingt, als sei ein Gewitter im Anzug.

5.000 Granaten waren es, die am Montag in und um Orašje niedergegangen sind. Auch jetzt ist die Gefahr ständig gegenwärtig in dieser Region, die kaum 30 Kilometer lang und 10 Kilometer breit westlich der Save auf bosnischem Territorium liegt. Die Tasche von Orašje ist zum bevorzugten Ziel der serbischen Attacken geworden. Die Region liegt direkt am Posavina-Korridor, der lebenswichtigen Verkehrsader der serbischen Militärs, die Banja Luka und die serbisch besetzten Gebiete in Kroatien mit der serbischen Hauptstadt Belgrad verbindet. Der Korridor, das ist die Konkretion des Traumes der serbischen Nationalisten: Nur mit ihm ist es möglich, ein Großserbien zu schaffen, die serbisch besetzten Gebiete in Bosnien-Herzegowina und Kroatien mit Serbien zu vereinen.

Wegen dieses Traumes haben viele Menschen sterben müssen. Und noch mehr, nämlich rund 400.000 Bewohner der Posavina- Ebene, zu 70 Prozent Kroaten, aber auch viele Muslime, einige Ungarn, Tschechen, Slowaken, Italiener und Roma sind wegen dieses Korridors vertrieben worden. Nur die Serben konnten bleiben, als im Frühjahr 1992 die „ethnischen Säuberungen“ begannen, als die „Tschetniks alle Nichtserben dieser Vielvölkerregion von Bjeljina über Brčko bis Banja Luka mit Mord und Terror überzogen“. Sead H. deutet von dem Dach des Wohnblocks, in dem er mit seiner Familie Unterschlupf gefunden hat, auf den sich in der Ferne abzeichnenden Höhenzug. „Von dort“, sagt er, „stammen wir, gleich bei der Stadt Gradačac dort drüben liegt unser Haus.“

Jetzt kämpft der Musiker, ein Muslim, der vor dem Krieg mit seiner Folkrockgruppe in Westeuropa gastiert hat, an der Front in der kroatisch dominierten HVO- Armee. Probleme zwischen der kroatischen Mehrheit und der muslimischen Minderheit gebe es nicht. „Hier halten wir zusammen.“ Ein paar Stunden bleiben ihm noch für sich und seine Familie. Am nächsten Morgen wird er wieder in den Sümpfen sein, in seiner Stellung, die am Montag angegriffen wurde. „Sie kamen mit zwölf Panzern an unseren Abschnitt bei dem Dorf Vidovici heran, vier Panzer haben wir zerstört, an anderen Frontabschnitten war es nicht anders, sie mußten sich zurückziehen.“ Aus „Rache“ habe dann die gegnerische Artillerie gegen zivile Ziele gewütet.

Die Schäden sind erheblich. Von dem Haus, in das eine Luna- Rakete einschlug, ist nicht mehr viel zu sehen. Ein Krater und zertrümmerte Mauerstücke zeugen von der Zerstörungskraft dieser Waffe. Sie sei Gott sei Dank in dem Haus einer Freundin gewesen, ihr Sohn und ihr Mann waren an der Front, schluchzt die in Tränen aufgelöste Besitzerin. Allein seit Montag seien 200 gerade wiederaufgebaute Häuser in Vidovici zerstört worden, heißt es in der Verwaltung des Disktrikts. Auch Schulen seien in Mitleidenschaft gezogen worden. Wieder einmal müßten sie geschlossen werden.

Trotz der Angst vor dem Beschuß bleiben viele der 40.000 Bewohner des Orašje-Gebiets gefaßt. Denn daß es nicht mehr so wie früher ist, als „wir als Zivilisten mit unseren Gewehren gegen eine Armee antreten mußten“, beruhigt Mate P. Der ehemalige Bauschlosser ist seit einem Jahr als Polizist an der Savefähre eingesetzt, die zwischen Orašje und dem kroatischen Ufer pendelt. Und als er erklärt, daß „wir in der Lage sind, zurückzuschlagen“, daß die Serben es jetzt mit einer richtigen Armee zu tun hätten, sind schnell aufeinanderfolgende Schüsse der HVO-Artillerie zu hören. Später wird es in Radio Belgrad heißen, daß die Straße nach Banja Luka „aus Sicherheitsgründen“ für zwei Tage unterbrochen ist.

Auch der Kommandeur der HVO-Truppen, Djuro Matužović, zeigt sich im Hauptquartier der Armee durch den Aufmarsch der serbischen Truppen wenig beeindruckt. In sachlichem Ton erklärt er die Lage. Es handele sich bei den Angreifern nicht mehr nur um bosnisch-serbische Truppen, es seien reguläre Truppen aus Serbien darunter, aus Novi Sad und Valjevo bei Belgrad zum Beispiel. Hinzu kämen Tschetnik-Truppen des Nationalistenführers Seselj und einige Leute des berüchtigten Milizenführers Arkan. Weiterhin seien die aus Westslawonien geflohenen Truppen der 18. Krajina- Brigade hier eingesetzt. Im Ganzen seien es 15.000 Mann, die ständig ausgewechselt würden. „Aber unsere Stellungen halten, der Gegner hat viele Verluste.“

Das Ziel der serbischen Militärs sei es kürzlich noch gewesen, nicht nur den Posavina-Korridor zu verbreitern, sondern mit der Einnahme Orašjes das kroatische Slawonien zu bedrohen. Die ostslawonischen Städte Osijek und Vinkovci sollten von Zagreb abgeschnitten werden, erkärt der Kommandant. Der etwa 45jährige Offizier sieht sich nicht nur als Verteidiger einer bosnischen Enklave, sondern auch als Verteidiger Kroatiens. Die kroatische Militäraktion in Westslawonien habe im übrigen diese Pläne durchkreuzt. „Wir sind jederzeit in der Lage, zum Gegenangriff überzugehen.“

Daß ein Gegenangriff nur möglich wäre, wenn es zu einem direkten Zusammenwirken der bosnischen Armee in der Region Tuzla, der HVO von Orašje und den kroatischen Truppen bei Brčko käme, leugnet der Kommandant nicht. Gelänge es, den serbischen Korridor zu durchtrennen und eine direkte Verbindung zwischen den an einer Stelle nur 5 Kilometer entfernten bosnischen Truppen herzustellen, wäre der Krieg wohl für die bosnisch-kroatische Seite entschieden.

Die bosnische Armee, so lassen bosnische Militärs immer wieder durchblicken, drängt denn auch auf eine gemeinsame Aktion am Korridor. Denn dann würden die Voraussetzungen für Verhandlungen mit den bosnischen Serben wesentlich verbessert. Banja Luka und die serbisch besetzten Gebiete in Kroatien wären von Belgrad abgetrennt, die serbische Seite wäre zu Kompromissen gegenüber den Enklaven Sarajevo, Bihać, Srebrenica, Zepa und Goražde gezwungen. Die kroatische Seite verzögere die gemeinsame Aktion, werfen die Muslime der HVO vor. Djuro Matužović überlegt: „Militärisch ist alles möglich“, antwortet der Kommandant der HVO, doch die „Armee hat sich den Entscheidungen der Politiker zu beugen“. Er lächelt süffisant.

Erneut heulen die Sirenen. Wieder sind serbische Artillerieangriffe zu erwarten. Der Kommandant bricht das Gespräch ab, er wird an anderer Stelle gebraucht. Die Menschen eilen in ihre Häuser und Keller, Autos rasen auf den von Schlaglöchern übersäten Straßen. In kaum einer Minute ist niemand mehr zu sehen.

In dem Gebäude der Stadtverwaltung wird der landesübliche bosnische Mokka gereicht. Als nicht weit entfernt eine Granate niedergeht, zittern die Fensterscheiben. „Die kroatisch-bosnische Föderation“, so erklärt Miku Danjanović, der als „Berater für die politische Abteilung“ so etwas wie eine graue politische Eminenz in der Region ist, „ist noch nicht soweit, um die gemeinsame Militäraktion durchzuführen.“ Zwar habe der Präsident der bosniakisch- muslimischen Föderation, Kresimir Zubak, erst kürzlich die Region besucht und „Druck gemacht, damit die Föderation in Gang kommt“, doch bisher sei der Durchbruch noch nicht erfolgt, pflichtet ihm Vizebürgermeister Ivo Vincetić bei. – In der Empfangshalle des Gebäudes drängen sich plötzlich die Mitarbeiter. Es ist hoher Besuch aus Mostar, der Hauptstadt Herceg-Bosnas, eingetroffen. Der Führer der Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft (HDZ) Bosnien-Herzegowinas, Darjo Kordić, will mit den lokalen Parteifreunden sprechen. Kordić, der als kroatisch-nationalistischer Extremist gilt, blickt ernst um sich. Und er hat allen Grund dazu. Der ehemalige Student der Soziologie an der Universität Sarajevo wird sich als verantwortlicher Kommandeur der HVO in Zentralbosnien zusammen mit 27 anderen HVO-Leuten wahrscheinlich wegen Kriegsverbrechen vor dem internationalen Gerichtshof in Den Haag verantworten müssen. Im April 1993 hatte eine HVO-Einheit, die mutmaßlich unter seinem Befehl stand, ein Massaker an der muslimischen Bevölkerung des Dorfes Ahmici angerichtet.

„Wir Kroaten hier in Posavina haben mit solchen Dingen nichts zu tun“, flüstert ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung, „hier sind Muslime und Kroaten immer gut miteinander ausgekommen.“ Die Führer von Herceg-Bosna, vor allem aber Kordić, bauten ständig Hemmnisse für die Föderation auf. „Da spielt auch Geld eine Rolle, denn diese Leute haben gut verdient, weil sie die Zufahrtswege von der kroatischen Küste nach Bosnien kontrollierten. Sie haben die Muslime mit ihren Zöllen ausgepreßt.“ Würde der serbische Korridor hier durchbrochen und Tuzla mit Orašje verbunden, hätten auch die Führer von Herceg- Bosna ihre Macht über Zentralbosnien eingebüßt. Deshalb versuchten sie, ihren Einfluß in Orašje auszubauen. „Um eine gemeinsame bosniakisch-kroatische Militäraktion gegen die Serben zustande zu bringen, müssen diese Leute entmachtet werden.“