Der heilige Koloß der Freßsucht Von Ralf Sotscheck

Manche Bürgerinitiativen haben merkwürdige Anliegen: Die 150 Leute, die vorgestern im Katholischen Zentrum in London zusammengekommen sind, kämpfen für die Heiligsprechung des englischen Schriftstellers und Journalisten Gilbert Keith Chesterton: der heilige Gilbert, Schutzpatron für sündige JournalistInnen. Die Bewegung kam Anfang des Jahres ins Rollen, als der ehemalige argentinische Botschafter in Thailand, Miguel Espeche Gil, den englischen Kardinal Basil Hume darüber informierte, daß Chesterton „die katholische Vorstellungskraft und Empfindsamkeit in England neu entfacht“ habe.

Was Hume darauf geantwortet hat, ist nicht bekannt. Am Samstag sprach jedenfalls der kanadische Pfarrer Joseph Pilsner, der mit diesem Namen viel eher für die Heiligsprechung geeignet scheint, über den theologischen Beitrag, den Chesterton geleistet hat. Danach diskutierte man über die Bedeutung seiner sozioökonomischen Theorie, den Distributismus, und verschiedene Konferenzteilnehmer lasen aus den Werken des im Jahre 1936 verstorbenen Schriftstellers, bevor der Journalist William Oddie die Argumente für die Heiligsprechung zusammenfaßte: „Er war ein heiliger Mann, ein Quell der Mildtätigkeit, und besaß einen Instinkt für die Wahrheit.“

Das mag stimmen – aber Chesterton war noch mehr: ein Freßsack. Er vertilgte unglaubliche Mengen an erlesenen Speisen und Alkoholika, so daß er zumindest äußerlich nichts mit dem genügsamen Diener Gottes gemein hatte, als den ihn seine Fans vom „Club des toten Dichters“ jetzt hinstellen wollen. Außerdem ist da noch die Kleinigkeit mit dem Wunder: „Heroische Tugend, ein heiliges Leben und strikte Befolgung der römischen Lehre“ reichen allein nicht aus, der Kandidat muß darüber hinaus ein Wunder vollbracht haben. Autor Martin Wroe vom Guardian meint gehässig, die einzige übernatürliche Tat, die der Gourmand vollbracht habe, sei das Auffangen eines belegten Brötchens mit dem Mund auf einem Kindergeburtstag.

Nun könnte man argumentieren, daß die Vielschreiberei – Chestertons gesammelte Werke umfassen 45 Bände – durchaus wundersam war. George Bernard Shaw und H. G. Wells, die des öfteren über Chestertons Ergüsse hergefallen sind, bescheinigten dem dicken Schriftsteller angesichts ihrer Verbalattacken die „Geduld eines Heiligen“. Ob das dem Papst, der in theologischen Fragen bisher eher konservativ war, aber ausreicht? Kevin Grant, der die Konferenz am Samstag organisiert hat, läßt sich durch Lappalien aber nicht beirren: „Was ist schon ein Wunder? Dieser bescheidene Koloß war von leuchtender Güte, und einige der Sachen, die er geschrieben hat, haben bestimmt das Leben einiger Menschen verändert. Ist das vielleicht kein Wunder?“

Chesterton-Freund William Oddie geht pragmatischer zur Sache. Für die ersten beiden Schritte zur Heiligsprechung, die Ernennung zum „Diener Gottes“ und zum „Ehrwürdigen“, ist kein Wunder vonnöten. „Kommt der Kult erst mal in Schwung und die Leute beten zu Chesterton, geschieht vielleicht etwas Übernatürliches mit ihnen“, sagt Oddie. „Dann können sie das auf Chesterton schieben, und alles geht wie von selbst.“