■ Italien, Land der falschen Umfrageergebnisse
: Volkssport Schummeln

Rom (taz) – Natürlich ist es nur eine böse Unterstellung, daß das Fehlen des Haupthaares von Gianni Pilo auf beständiges Raufen desselben ob seiner Einbrüche im eigenen Metier zurückzuführen ist: Doch kein Zweifel besteht daran, daß der 41jährige Chefdemoskop des im Dezember 1994 aus dem Amt des Regierungschefs vertriebenen Silvio Berlusconi seit fast einem Jahr ausschließlich falsche Ergebnisse produziert.

Im Hochsommer 1994 hatte Pilo seinem Chef grünes Licht für eine Nacht-und-Nebel-Aktion zur Rettung korrupter Politiker und Manager gegeben, weil die öffentliche Meinung angeblich skandal-unwillig geworden war – doch dann fegten Hunderttausende von Fax- Briefen an Regierung, Parteien und Medien das Dekret hinweg. Im Oktober schwadronierte der Meinungsumfrager, daß allenfalls ein paar zehntausend Menschen auf die Straße gehen würden, um gegen die von Berlusconi geplanten Schnitte ins soziale Netz zu protestieren – es waren aber mehr als anderthalb Millionen. Umgekehrt kamen von den 100.000 bis 200.000 von Pilo vorausgesagten Pro-Berlusconi-Fans gerade mal ein paar hundert, als dessen „Forza Italia“ und die rechtextreme Nationale Allianz zur Großdemo für die Regierung aufriefen.

Schlimmster Patzer dann die großspurige Prognose für die Regionalwahlen im April 1995, wo Pilo der Forza Italia an die 30 Prozent und damit einen weiten Vorsprung vor allen anderen Parteien prophezeite – doch dann waren es nur 22 Prozent, die Linksdemokraten der PDS dagegen überholten Forza Italia locker mit fast 25 Prozent.

Mit solchen Fehlprognosen steht Pilo allerdings nicht allein: Selbst bei den in anderen Ländern fast bombensicheren Exit-Poll- Umfragen (Nachfragen am Ausgang der Wahllokale) griffen durchwegs alle weit daneben – sie sahen Berlusconi weit vor den Linksdemokraten, doch nach der Auszählung war es genau umgekehrt; auch die der Nationalen Allianz vorausgesagten 17 Prozent kamen nicht ein, die Partei blieb bei ihren früheren 14 Prozent.

Was ist los mit den italienischen Demoskopen? Können sie wirklich nicht, stellen sie die einfach nur die falschen Fragen – oder schönen sie ihre Ergebnisse je nach Auftraggeber? Bei Pilo wäre das wohl denkbar – trotz seiner meist frechen Sprüche halten ihn viele eher für eine Speichellecker. Doch die anderen Institute arbeiten für alle möglichen Parteien, auch solche, die sich hernach als wesentlich stärker erweisen.

Der Versuch, die eigenen Fehlprognosen unter Hinweis auf Frankreich kleinzureden, wo Jospin als Überraschungskandidat in die Endausscheidung kam, ging daneben: dessen atemberaubende Aufholjagd hatten die Meinungsforscher sehr wohl erkannt, wenn auch nicht hinreichend in Prozente umzusetzen vermocht.

Berlusconi selbst steuerte zeitweise noch eine abstruse Variante bei: Im Grunde stimmten die Exit- Poll-Befragungen, die ihn weit an der Spitze gesehen hatten, nur – die Leute hatten in den Kabinen an der falschen Stelle ihre Kreuzchen gemacht, weil das Wahlsystem so kompliziert sei.

Diese Deutung wurde spätestens vergangenen Sonntag zur Makulatur: Da war Stichwahl, es gab jeweils nur zwei Kandidaten, und trotzdem war es wieder keinem Wahlforschungsinstitut gelungen, die richtigen Ergebnisse vorauszusagen.

Politologen fahnden nun in der italienischen Volksseele nach den Gründen für das Desaster der Demoskopen. „Die Leute schummeln einfach“, vermutet der angesehene Wahlforscher Renato Mannheimer, und L'Espresso macht gar ein literarisiches Vorbild zum Paradeexempel: „Lauter Pinocchios“ – das zum Leben erweckte Holzpüppchen hatte seine lange Nase bekanntlich vom Lügen. „Es ist zum Volkssport geworden, Demoskopen anzuschwindeln“, barmt Panorama, das zu Berlusconis Konzern gehört und sich besonders hereingelegt fühlt.

Doch warum lügen die Leute? Geht ihnen die Demoskopie einfach auf den Wecker? Kommt die berühmte „Furbizia“, die Schlitzohrigkeit zum Vorschein, deren sich viele Italiener rühmen? Die wahrscheinlichste Version hat La Repubblica ermittelt: Die Wähler trauen den Demoskopen einfach nicht – sie haben Angst, daß ihre Auskunft über ihr Wahlverhalten am Ende in die falschen Hände fällt. Beispiele für Wahl-Indiskretionen gibt es – in Sizilien kontrollieren Mafiosi auch die offizielle geheime Stimmabgabe, und die Tageszeitung Il Messaggero will über Urnen-Prüfungen gar herausgefunden haben, für wen der frühere Chefermittler in Sachen Korruption, Antonio di Pietro, gestimmt hat – für das christlich demokratische Zentrum.

Dann aber, so L'Espresso, stelle sich eine weitere Frage: Warum behaupten offenbar viele Wähler unzutreffenderweise, sie hätten rechts gewählt und nicht links, während der umgekehrte Effekt nicht zu beobachten ist?

Darauf gibt's wohl nur eine Antwort: Sie fürchten sich vor der Rechten, im Falle der Indiskretion über ihr Votum, mehr als vor den Linken. Werner Raith