„Leichen, halb aufgefressen von Ratten“

■ Unter den Augen der Briten halbierte sich nach 1845 Irlands Bevölkerung

1845 versprach ein gutes Kartoffeljahr zu werden. Der größte Teil Irlands war damals im Besitz englischer Gutsherren, die ihre Güter jedoch nicht selbst bewirtschafteten, sondern zur Pacht weitergaben. Zur Verwaltung setzten sie Mittelsmänner ein, die wiederum das Land von Subagenten beaufsichtigen ließen. Die verjagten unproduktive Bauern und holten den höchstmöglichen Pachtzins heraus.

Der Kartoffelanbau, auf den Irland Ende des 18. Jahrhunderts umgestellt hatte, war für die Bauern sehr wichtig: Dafür wird nur ein Fünftel der für eine ähnliche Menge Getreide nötigen Fläche gebraucht. Die Folge war, daß die Bevölkerung Irlands innerhalb weniger Jahrzehnte von dreieinhalb auf acht Millionen anstieg. Als 1845 eine Kartoffelfäulnis fast die gesamte Ernte befiel, teilten die englischen Behörden Irland in „Wohlfahrtsbereiche“ ein. Unter entsetzlichen Entbehrungen überstanden die Iren den Winter und richteten ihre Hoffnungen auf die neue Kartoffelernte. Doch innerhalb weniger Tage wurden die Kartoffeln erneut von Krankheit vernichtet.

Diesmal blieben Hilfsmaßnahmen aus. Die Londoner Regierung erklärte, sie wolle nicht in das Spiel der Marktkräfte eingreifen. Zugleich exportierten die englischen Gutsherren Lebensmittel aus Irland. Bald brachen erste Hungerrevolten brachen aus. Als auch in den beiden folgenden Jahren die Kartoffelernte ausfiel und überdies eine Pest- und Typhusepidemie ausbrach, begann das dunkelste Kapitel in der an Katastrophen gewiß nicht armen irischen Geschichte. Der Engländer Nicholas Cummins, der ein kleines Landgut in Südwestirland besaß, schrieb damals in einem Leserbrief an die Times: „Da ich auf eine Szene schrecklichen Hungers vorbereitet war, versorgte ich mich mit soviel Brot, wie fünf Männer tragen können.

Als ich ankam, war ich überrascht, daß das heruntergekommene Dorf offensichtlich verlassen war. Ich betrat eine der Hütten, um den Grund dafür herauszufinden. Das Bild, das sich mir bot, war unbeschreiblich. In der Hütte saßen sechs ausgehungerte Skelette, allem Anschein nach tot, zusammengekauert in einer Ecke auf schmutzigem Stroh, nur bedeckt mit einer Pferdedecke. Als ich näherkam, hörte ich ein Stöhnen und merkte, daß sie lebten. Sie hatten hohes Fieber, vier Kinder, eine Frau und ein Mann. Es ist unmöglich, die Einzelheiten zu beschreiben. Am selben Morgen drang die Polizei in ein Haus ein und fand zwei erfrorene Leichen, die auf dem schlammigen Fußboden lagen, halb aufgefressen von Ratten.“ Eine Million Menschen verhungerten in den fünf Jahren nach der ersten Kartoffelpest; anderthalb Millionen wanderten aus. Die Emigration hörte auch dann nicht auf, als die Kartoffelfäulnis 1850 gebannt war.

Schon die Schiffsreise von den irischen Häfen nach Liverpool oder New York bezahlten viele der Auswanderer mit dem Leben. Viele Schiffe waren kaum seetauglich; ein Sechstel der irischen EmigrantInnen starb entweder schon auf der Überfahrt oder in der Quarantäne nach ihrer Ankunft in den USA.

John Brosnan, der Hafenmeister von Cork, sagte: „Den Schweinen unter Deck ging es besser, weil es Menschen gab, die am Überleben der Tiere ein Interesse hatten. Um die armen Emigranten kümmerte sich dagegen niemand.“

Bis 1920 waren schließlich fünf Millionen IrInnen in den USA gelandet. Die Einwohnerzahl Irlands hatte sich dagegen gegenüber 1845 halbiert. Ralf Sotscheck