Warmer Entzug oder Venen-Erholungskur

Drogen und Sucht – eine taz-Serie. Teil 3 (und Schluß): Methadon / Mehr als zweieinhalbtausend Heroinsüchtige werden in Berlin mit den synthetischen Ersatz-Opiaten behandelt  ■ Von Peter Lerch

„Holen sie sich bitte ihren Saft ab!“ Die Schwester auf der Drogen-Entgiftungsstation im Berliner Urban-Krankenhaus geht durch die Zimmer und weckt die Patienten. Es ist Donnerstag morgen, sieben Uhr dreißig. Der 28jährige Frank kommt gähnend über den Flur geschlurft und sieht aus wie jemand, der gerne noch ein bißchen weitergeschlafen hätte. „Meine Güte, was 'ne unchristliche Zeit“, mault er und kippt angewidert den Becher Grapefruitsaft mit Methadon runter.

Obwohl der 30jährige in den vergangenen vier Jahren – häufig mehrmals täglich – Heroin spritzte, hat er heute am dritten Tag seines Aufenthaltes auf der Entgiftungsstation keine Entzugserscheinungen. Denn hier auf der Station 7 der psychiatrisch- neurologischen Abteilung des Urban Krankenhauses werden Süchtige vorübergehend mit dem Opiatersatzstoff Methadon substituiert. Bereits in geringer Dosierung vermag das im Zweiten Weltkrieg von I.G. Farben entwickelte und zum 50. Geburtstag Adolf Hitlers als „Adolfin“ auf den Markt gebrachte Ersatzmorphin die Entzugsqualen erträglich zu machen.

Am Tag der Aufnahme bekam Frank vom Stationsarzt noch 5 Milliliter des Medikaments. Doch da die Dosis täglich um einen halben Milliliter reduziert wird, bekommt er heute morgen nur noch vier Milliliter. Die Aufenthaltsdauer in der Klinik richtet sich nach der Anfangsdosierung. Wer zum Entziehen nur 3 Milliliter benötigt, muß mindestens acht Tage bleiben. Bei einer Dosierung von fünf Milliliter dauert die Entgiftung bereits zwölf Tage.

Bei erfolgreicher Reduzierung der Methadon- oder Polamidon- Dosis stellen häufig die letzten Milliliter noch ein gravierendes Problem da. Die Reduktion auf Null ist bei den meisten Süchtigen mit erheblichen Ängsten, Rückfallgedanken und Entzugserscheinungen, sowie mit dauernder Schlaflosigkeit verbunden. In einer Woche wird auch Frank bei einem halben Milliliter angelangt sein. Und davor fürchtet er sich: „Ich weiß nicht wie es ist, wenn ich mal bei einem oder einem halben Milliliter angelangt bin. Die anderen, die schon runterdosiert sind sagen, daß es einem dann nicht so gut geht. Vielleicht hau' ich dann ab“, sagt er und lächelt. „Dann war es eben nur eine zehntägige Venen-Erholungskur.“

Fast die Hälfte der Drogenabhängigen, die zum Entgiften in das Urban-Krankenhaus kommen, sind schon zum zweiten- oder drittenmal hier. Dabei ist es gar nicht einfach, einen Platz auf der Station zu kriegen, weil die Nachfrage nach dem methadongestützten, sogenannten „warmen Entzug“ weitaus größer ist als das Angebot. Das bedeutet, daß der Süchtige, sobald er sich zum Entgiften entschlossen hat, täglich zwischen acht und neun Uhr in der Klinik anrufen und bestätigen muß, daß er noch an einem Entgiftungsplatz interessiert ist. Versäumt der Betreffende einen Anruf, landet er wieder auf dem letzten Platz und muß sich weitere drei bis vier Wochen gedulden.

Frank hatte bereits beim ersten Mal vier Wochen warten müssen bis ein Bett frei war. Dabei ist der Aufenthalt auf der Station alles andere als angenehm. Die morgendliche Frühgymnastik ist für die meisten Süchtigen eine ebenso lästige Pflicht wie die Teilnahme an den verschiedenen Bastel- und sonstigen Gruppen. Doch den Entzugswilligen bleibt keine andere Wahl.

Das Urban-Krankenhaus in Berlin ist die einzige Klinik, die auf methadongestützte Entgiftungen spezialisiert ist und insofern leider noch das Monopol innehat. So bleibt den Süchtigen als Alternative nur noch ein kalter Entzug ohne Medikamente oder die Dauersubstitution in einem ambulanten Methadonprogramm.

Dazu kann sich der Betroffene bei der Clearingstelle der Ärztekammer eine Liste der Ärzte einsehen, in der die substituierenden Ärzte aufgeführt sind. Eine von insgesamt zweihundert Berliner Ärztinnen, die Süchtigen eine ambulante Dauersubstitution anbietet ist Frau Doktor Maja Böhm. Die Ärztin verfügt über langjährige Erfahrung mit der Behandlung von Suchtkranken. Bevor sie vor vier Jahren mit Substitutionsbehandlung Heroinsüchtiger begann, arbeitete sie im Jüdischen Krankenhaus mit Tabletten- und Alkoholabhängigen.

In der Methadonabgabe sieht die Ärztin eine akzeptable Möglichkeit, Heroinsüchtige zu entkriminalisieren und die körperliche Gesundheit von Süchtigen zu stabilisieren. „Es ist ein Weg, den Menschen etwas anzubieten, die früher keine Chance gehabt hätten, von der Szene wegzukommen“, lobt sie die Vergabe von Ersatzstoffen.

Verabfolgte man den Substituierten bis vor einem Jahr noch das Medikament l-Polamidon, stieg man aus Kostengründen rasch auf das Methadon um, das nicht als Fertigarzneimittel, sondern nur als pharmazeutische Chemikalie im Handel erhältlich ist. Die gleiche Medikamentierung mit Methadon kostet pro Patient täglich bis zu zehn Mark weniger.

Ein Süchtiger, der substituiert werden möchte, muß mit einer Drogenberatungsstelle in Verbindung stehen. Dann muß er zunächst einen Arzt finden, den er überzeugen kann, daß Methadon (bzw. das Hoechst-Präperat l-Polamidon) die richtige Therapie für ihn ist. „Klar, daß man einer 16jährigen, die erst seit einem halben Jahr fixt, eher eine Clean-Therapie nahelegen wird“, erklärt Maja Böhm. Wenn der Arzt sich mit der Drogenberatungsstelle abgesprochen hat, stellt er einen Antrag bei der Clearingstelle der Ärztekammer, die der Methadonbehandlung in aller Regel zustimmt und ihre Entscheidungspraxis „relativ großzügig“ handhabt. Danach steht das „Clean-werden“ zunächst eher im Hintergrund. Zumindest bis die Substituierten im Verlauf der Behandlung ihre Gesundheit und ihr soziales Umfeld stabilisiert haben.

Gewöhnlich entsteht im Laufe der Zeit bei den Betroffenen selbst der Wunsch, das Methadon abzusetzen. Doch dann, in der Regel nach zwei oder drei Jahren, beginnt der langwierige Prozeß des „Ausschleichens“, wie die schrittweise Reduzierung der Methadon bzw. Polamidon-Dosierung genannt wird. Denn das Ersatzpräparat selbst ist schwerer zu entziehen als Heroin. Fachleute behaupten, daß der abrupte Entzug des Entzugsmittels, anders als der von Heroin, sogar lebensgefährlich sein kann. Gemäß eines Senatsbeschlusses vom April 1990 ist die psychosoziale Betreuung substituierter Drogenabhängiger unabdingbar und die substitutiongestützte Behandlung in der Regel nur dann sinnvoll, wenn eine entsprechende Begleitung gewährleistet ist. Die psychosoziale Betreuung soll dem Substituierten helfen, seine soziale Reintegration zu betreiben, zur psychischen Stabilisierung beizutragen und Begleitung auf dem Weg zu einer drogenfreien Perspektive sein. Diese Betreuung sollte im Regelfall für einen Zeitraum von zwei Jahren gewährt werden.

Anders als in anderen Bundesländern, gibt es in Berlin jedoch kein offizielles „Methadon-Programm“, sondern die Substitution nach Einzelfallentscheidung. Nach einem Expertenhearing im Jahr 1989 verständigte sich die Senatsverwaltung mit der Ärztekammer auf die sogenannte „Berliner Linie“, nach welcher es zunächst keine festen Indikationskriterien für die Vergabe von Methadon gab.

In einem Zwischenbericht der Clearingstelle für Substitution der Ärztekammer Berlin heißt es dazu: „Wenn im Einzelfall ein langjährig drogenabhängiger Patient sich in einer physisch und/ oder psychisch verzweifelten Situation befindet, wenn der Betreffende den glaubhaften Wunsch hat, seine Lage zu verändern, (...) befürwortet die Ethik-Kommission eine Polamidon (bzw. Methadon)-gestützte Behandlung.“

Doch bereits 1994 beschloß der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen Richtlinien, die die Indikationen zur Substitutionsbehandlung eingrenzten. Kein Wort mehr von Stabilisierung der sozialen, psychischen und gesundheitlichen Situation von Langzeitabhängigen. Nur noch Drogenabhängige mit lebensbedrohlichem Entzug, mit schweren Erkrankungen, bei opioidpflichtigen Schmerzzuständen, Aids-Kranke und Schwangere sollen mit Methadon behandelt werden.

Unter diesen Umständen ist es geradezu ein Glück, daß viele Junkies das synthetische Ersatzopiat grundsätzlich nicht wollen und höchstens in Notzeiten darauf zurückgreifen würden. Sie klagen über Schläfrigkeit am Tage, die abends zum falschen Zeitpunkt wieder nachläßt und vermehrtes Schwitzen. Außerdem fehlt der „Kick“, das eigentliche Rauscherlebnis. Deshalb konsumieren viele der Substituierten neben dem Methadon noch andere Drogen. Ein wirkliches Problem für Frau Doktor Böhm: „Es gehört zu den Vergabebedingungen, daß die Methadonsubstituierten mittels Urinkontrollen nachweisen, daß sie keine anderen Drogen benutzen.“

Dennoch konsumiert etwa ein Drittel der auf Ersatzstoff Umgestellten nebenbei noch andere Drogen. Unter den Substituierten ist besonders der Kokainmißbrauch verbreitet, da eine weitere Einnahme von Heroin und anderen Opiaten wirkungslos bleibt. Der Beikonsum anderer psychotroper Substanzen wie Kokain oder Schlaf- und Beruhigungstabletten wird mit den Süchtigen stets diskutiert. Wenn die Betroffenen sich uneinsichtig zeigen und den Beikonsum nicht aufgeben wollen, führt das in der Regel zum Abbruch der Behandlung. Im Einzelfall wird dies jedoch unterschiedlich gehandhabt: Bei Aids-kranken Patienten werden weniger strenge Maßstäbe angelegt.

Da es sich in Berlin nicht um ein einheitliches Programm handelt, gibt es auch keine einheitlichen Regelungen für Entlassungs- oder Beendigungskriterien. Wann der Zeitpunkt erreicht ist, die Substitution zu beenden, ist im Einzelfall sehr unterschiedlich. Doch nach Erfahrungen der behandelnden Ärzte überschätzen sich Drogenabhängige häufig. Sie wollen das Methadon aus Autonomiegründen schneller absetzen, als sie in der Lage sind, drogenfrei zu leben.

Teil 1 (Heroin) ist am 4.5., Teil 2 (Alkohol) am 5.5.1995 erschienen