■ Bedenklicher Trend
: Schmarotzer

Die Neigung vieler Zeitgenossen, vor allem solcher aus der Mittelschicht, ihren bisherigen Stammsitz in der Stadt zugunsten einer Landwohnung aufzugeben und nach und nach ihren Lebensmittelpunkt dorthin zu verlagern, bringt Gefahren mit sich. Ein nicht unerheblicher Teil jener „Flüchtlinge“ hat sich offenbar dem zugewandt, was in Italien „menefreghismo“ heißt: die völlige Indifferenz gegenüber gesellschaftlichen Problemen. Flucht aus der Stadt ist auch ein Stück Weigerung, sich sozial und politisch zu engagieren. Darüber sollte auch nicht hinwegtäuschen, daß sich manche auch auf dem Land in der Gemeindepolitik engagieren. Doch die wirklich zentralen Probleme werden noch auf viele Jahrzehnte hinaus in den Städten entschieden. Sie betreffen jeweils Abermillionen von Menschen, nicht nur den örtlichen Kirchturm und das Wirtshaus nebenan.

Zudem sehe ich in der mit dem Rückzug aufs Land verbundenen Partikularisierung eine weitere große Gefahr: die wachsenden lokalen Konflikte. Man braucht gar nicht die schlimmen Erfahrungen des zerfallenen Jugoslawien zu bemühen. Auch in vielen Ländern, die nicht als Vielvölkerstaat entstanden sind, mehren sich regionale Konflikte. Dabei meine ich nicht nur die Basken oder Iren, sondern etwa auch die Lombarden mit ihren Separationsgelüsten. Zerfällt die europäische Staatenwelt in noch mehr Subeinheiten, dann wird sie auch immer angreifbarer, immer schwächer. Die Gefahr eines neuen Mittelalters existiert.

Die Neuzeit hat ihre Kraft und ihre Verdienste aus dem Aufbau und der Gestaltung einer städtischen Kultur bezogen, und darunter verstehe ich sowohl das Arbeits- wie das Privatleben, die Politik wie die Kunst und so weiter. Sicher ist vieles davon inzwischen auch von Fehlentwicklungen geprägt, das kann bei einem derart differenzierten und komplizierten Ineinandergreifen der verschiedensten Elemente gar nicht anders sein. Doch andererseits verfügen wir ja inzwischen außer über unsere eigene Intelligenz auch über unzählige Hilfsmittel, mit denen wir auch große politische Räume hinreichend in den Griff bekommen können. Mit deren Unterstützung können wir sowohl die großen Probleme angehen wie auch die partikularen Interessen so weit berücksichtigen, daß die Gesellschaft nicht auseinanderfällt. Allerdings bedarf es dazu der ständigen Mitarbeit und Anstrengung aller Mitglieder der Gesellschaft. Wer sich heute ohne Not aufs Land zurückzieht und die städtischen Probleme einfach ignoriert, ja sich vielleicht am Ende gar darüber freut, wenn dort gar nichts mehr geht, der ist, ich kann es nicht anders sagen, ein Schmarotzer. Arcangelo Sicignano

Der Autor ist Mitarbeiter der Bürgerinitiative „Una citta per l'uomo“, die in verschiedenen Städten Süditaliens tätig ist.