Unter Ausschluß der Öffentlichkeit

Bei der Begutachtung von medizinischen Versuche sind Laien unerwünscht  ■ Von Klaus-Peter Görlitzer

In Erlangen sollte eine Schwangere, die nach einem Autounfall im Oktober 1992 zur „Hirntoten“ erklärt worden war, ein Kind zur Welt bringen. In Hannover wollen Neurochirurgen Gewebe abgetriebener Embryonen und Föten in die Gehirne von Parkinsonkranken übertragen. Solche Versuche am Menschen, geplant in deutschen Universitätskliniken, sorgten wochenlang für Schlagzeilen.

Die meisten medizinischen Experimente passieren dagegen unter Ausschluß der Öffentlichkeit – täglich. Obwohl bereits rund 50.000 Präparate auf dem Markt gibt, sind klinische Prüfungen von Arzneimitteln die mit Abstand häufigsten Versuche, die an deutschen Krankenhäusern stattfinden. Daran nehmen je Testphase zwischen zehn und 2.000 Menschen teil. Ausprobiert werden auch Medizinprodukte wie Herzschrittmacher oder künstliche Gelenke; getestet werden neue Operationsmethoden und Strahlenbehandlungen; experimentiert wird bei der Verpflanzung menschlicher Organe und der sogenannten künstlichen Befruchtung. Und wissenschaftliches Neuland betreten Mediziner auch, wenn sie gentherapeutische Verfahren erproben.

Nur: Wie viele und welche medizinischen Versuche am Menschen überhaupt stattfinden – darüber gibt es hierzulande kaum verläßliche Zahlen, geschweige denn detaillierte Informationen. Strikte Geheimhaltung, die von den Politikern in Bund und Ländern stillschweigend geduldet wird, schließt eine gesellschaftliche Einflußnahme und Kontrolle bisher weitgehend aus.

Deutschlands Ärzte sollen sich an ihre Berufsordnung halten, und die schreibt seit 1985 vor: Jeder Mediziner, der klinische Versuche am Menschen vornehmen oder mit persönlichen Daten von Patienten forschen will, ist verpflichtet, sich vorher von einer Ethikkommission beraten zu lassen. Dabei sollen Nutzen und Risiken eines Forschungsvorhabens sorgfältig abgewogen werden, Beratungsgrundlage ist eine Kurzbeschreibung des Projekts. Was die forschungswilligen Mediziner anschließend tun, müssen sie allein verantworten – an das Kommissionsvotum sind sie nicht gebunden.

Ethikkommissionen gibt es bei den Ärztekammern der Bundesländern, an den medizinischen Fachbereichen der meisten Universitäten und an großen Krankenhäusern. Mediziner dominieren eindeutig, sie stellen zwischen 70 und 80 Prozent der Kommissionsmitglieder. Die restlichen Plätze sind zumeist für Juristen und Theologen reserviert. Frauen sind die Ausnahme, Patientenvertreter und medizinische Laien fast nirgends erwünscht. Die Gremien tagen grundsätzlich unter Ausschluß der Öffentlichkeit.

„Die Arbeit der Ethikkommissionen“, schreibt der Arzt Johannes Spatz in der Februarausgabe der gesundheitspolitischen Zeitschrift Dr. med. Mabuse, „erinnert an Geheimbündelei.“ Spatz, der in der bremischen Verwaltung als Referent für kommunales Gesundheitswesen arbeitet, plädiert dafür, die bisherigen Ethikkommissionen durch „Patientenschutzkommissionen“ zu ersetzen. In ihnen sollten unabhängige Patientenvertreter sitzen, entsandt von Initiativen und Wohlfahrtsverbänden, gewählt von den Landesparlamenten. Ärzte und Juristen können ihren Sachverstand weiterhin beratend einbringen. Die Entscheidung aber, ob ein Versuch ethisch vertretbar ist oder nicht, darf nach dem Spatz-Modell allein die Patientenschutzkommission in öffentlicher Sitzung treffen. Die Ergebnisse müßten verständlich publiziert und potentiellen Testpersonen vorgelegt werden. Wenn der forschende Arzt den Versuchsablauf erklärt und die ausgesuchten Probanden um die notwendige Einwilligung bittet, sollte zudem ein unabhängiger Patientenfürsprecher dabeisein.

Gefragt sind nun die Politiker in den Landtagen. Anlaß zum Handeln haben sie ohnehin. Bis Mitte August müssen sie die im Sommer 1994 von Bundestag und Bundesrat beschlossene „Fünfte Novelle zum Arzneimittelgesetz“ umsetzen. Sie verpflichtet die Länder, Ethikkommissionen endlich auf eine rechtliche Grundlage zu stellen. Für Medikamentenprüfungen wird künftig nicht nur eine Beratung, sondern eine „zustimmende Bewertung“ der Kommission vorausgesetzt.

Zwar gilt das Gesetz nur für Arzneimittel. Doch Juristen wie etwa der renommierte Göttinger Arzneimittelrechtler Erwin Deutsch meinen, „die Länder wären gut beraten“, wenn sie künftig für alle biomedizinischen Versuche am Menschen die Zustimmung der neuzubildenden Ethikkommissionen verlangten.

Wie diese zusammengesetzt werden, wem sie verantwortlich sind – das liegt im Ermessen der Länderparlamente. Wenn sie wollen, können sie sich am Patientenschutz-Modell à la Spatz orientieren.

Bewegung gibt es inzwischen im Stadtstaat Hamburg, wo in den vergangenen Jahren wiederholt spektakuläre Medizinskandale bekannt geworden waren. Sozialsenatorin Helgrit Fischer-Menzel (SPD) und die GAL-Fraktion haben jeweils eigene Gesetzesentwürfe vorgelegt. Beide sehen vor, medizinische Laien in die Kommissionsarbeit einzubeziehen. Während die Senatorin dabei eine knappe Mehrheit der Ärzteschaft festschreiben will, überwiegt im Entwurf der Grünen die Zahl der Nichtmediziner: Sechs Laien – Patientenvertreter, Sozialarbeiter, Juristen, Seelsorger – stehen zwei Ärzten gegenüber, komplettiert wird die Ethik-Runde durch eine Krankenschwester oder einen Pfleger. Das Gremium soll die Öffentlichkeit beteiligen, sobald es um „allgemeine ethische Fragestellungen“ geht, die über den Einzelfall hinausgehen – gemeint sind Techniken wie Gentherapie oder Organtransplantationen.

Gespannt darf man sein, welche Alternativen zur bisherigen Geheimpraxis Politiker und Patientenorganisationen in anderen Bundesländern zu bieten haben. Jedenfalls sind Aufklärung und öffentliche Diskussion über medizinische Versuche am Menschen längst überfällig.