Eine Frau hat Angst zu ersticken

Gesichter der Großstadt: Die Religionslehrerin M.E. träumt davon, ihre Schulerfahrungen zwischen zwei Buchdeckel zu pressen  ■ Von Barbara Bollwahn

Die Religionslehrerin M.E. träumt in letzter Zeit oft von der Hauptschule. Sie wird aber nachts nicht von grölenden jungen Rabauken heimgesucht, die ihr das Leben schwer machen. Damit hat die Studienrätin, die von ihren Schülern Evi genannt wird, weiß Gott keine Probleme. Es sind auch nicht Kollegen von der Hans- Sachs-Schule, die sie bis in den Schlaf verfolgen, um ihr zu predigen, daß eine Religionslehrerin mit der Bibel in der Hand den Schülern das Beten beizubringen habe. Nein, die 48jährige erhält im Traum einen Anruf eines Verlages, der ihr ein wahrhaft traumhaftes Angebot macht: „Sie haben ein Jahr Zeit, in dem wir Ihr Gehalt weiterzahlen und Sie ein Buch über die Hauptschule schreiben können“, tönt im Schlaf eine Stimme aus dem Telefon.

Obwohl M.E., die seit fünfzehn Jahren als Lehrerin arbeitet, ihren Job voller Bewußtsein macht – oder gerade deshalb –, hat sie manchmal das Gefühl, doch nicht genug zu tun. Dann stellt sich dieses „Versäumnisgefühl“ ein, diese Angst, am Alltäglichen zu ersticken. Mit einem „wissenschaftlich-literarischen Forderungskatalog“ würde sie gern ihre Erfahrungen zwischen zwei Buchdeckel pressen, um „etwas Allgemeineres“ zu machen. „Ich hätte die Kompetenz dazu“, ist sie überzeugt. Nicht umsonst hat sie zehn Jahre Germanistik, Philosophie und Theologie und nebenbei Pädagogik und Kunst studiert.

Für die 48jährige mit den blauen Augen und den dicken blonden Haaren ist der Lehrerjob eine „unheimlich herausfordernde Arbeit“. Ein „guter Beruf, wenn man ihn ernst nimmt“ und sich mit den Schülern ehrlich auseinandersetzt. Weil sie das macht, ist sie auch so beliebt. „Man muß ihnen was beibringen, wo sie denken müssen“, sagt sie. Man darf sie nicht gängeln, sondern muß versuchen, Einblick in deren Widersprüche zu bekommen. Denn Jugendliche hätten ein Recht darauf. Von Erwachsenen aber erwartet sie, daß sie rational und logisch argumentieren. Die Religionslehrerin kommt nicht aus einer „frömmelnden Familie“. Ihr Vater war ein „schwerreicher Fabrikant“. Als sich die Mutter von ihm scheiden ließ, zogen sie von der Villa im Grunewald in eine Einzimmerwohnung in Kreuzberg. Durch das Philosophiestudium wurde ihr Interesse an religiösen Fragen geweckt. „Mit Bewußtsein“ hat sie Theologie studiert. Eine Trennung zwischen theologischen und allgemeingesellschaftlichen Fragen läßt sie nicht zu. Darum stehen Themen wie Alkohol, Drogen und Gewalt auf ihrem Religionsplan. Standen. Denn M.E. ist seit einer Woche bis auf weiteres beurlaubt. Bereits vor den Osterferien hatte sie bei ihrem Arbeitgeber, dem Amt für Religionsunterricht, um eine „sanfte Ablösung“ gebeten. E. lehnt nicht nur bei den Schülern „jegliche Unterdrückungsform“ ab. Auch sie will sich nicht „knebeln“ lassen. Soviel sie auch über die Konflikte an der Hans- Sachs-Schule zu sagen hätte, sie kann nicht. Denn der Frau, die ohne Komma und Punkt antwortet, wurde ein Maulkorb verpaßt.

Daß ihr Unterricht erfolgreich ist, dafür spricht nicht nur der Streik von Schülern und Lehrern letzte Woche gegen ihre Beurlaubung. Auch heute noch hat sie Kontakt zu ehemaligen Schülern. Wenn andere samstags in der Kneipe sitzen, trifft sie sich mit einer ehemaligen Theatergruppe, um Freud oder Heidegger zu lesen. Für Privates bleibt wenig Zeit im Leben der M.E., die statt Fernseher und Auto einen 13jährigen Sohn und eine 14jährige Tochter hat. Alkohol und Nikotin gibt es für sie nur als Unterrichtsthema. Da sie Einseitigkeiten haßt, wird sie wohl auch noch in den nächsten Jahren hin- und hergerissen sein zwischen dem Drang, sich weiterhin in die Probleme der Stadt einzubringen und dem Bedürfnis nach frischer Landluft. „Auf dem Land würden sie mich als Hexe verbrennen“, sagt sie und lacht. Barbara Bollwahn