■ Ökolumne
: Jetzt oder nie Von Jürgen Voges

„Auf nach Hannover!“ Plakate, Flugblätter und Rundbriefe rufen zum „Bundesweiten Demonstrations- und Aktionstag am 13. Mai“ in die niedersächsische Landeshauptstadt. Schon das Wort „Bundesweit“ ruft Erinnerungen wach an die Jahre, in denen Anti- AKW-Demos in Zehntausendern zu zählen waren und Friedensdemos in Hunderttausendern. Und die Hauptforderung „Sofortige Stillegung aller Atomanlagen! Energiewende jetzt!“ provoziert den Kommentar: politisch korrekt, wichtig, aber eben zeitlos richtig. Schließlich das Unterschriftenkartell: MdBs, MdEPs, MdLs, Umweltdezernenten, Untergliederungen von Grünen, Jusos und der PDS, allerlei Verbände und dazwischen altgediente Anti-AKW-BIs. Sind das nicht die Leute, für die schon am Bauzaun von Brokdorf der Marsch in die Institutionen begann?

Ich hoffe, daß ich dem Aufruf damit furchtbar unrecht tue. Er geht auf die Initiative einer einzelnen Frau zurück. Sie heißt Gerlinde Wiese, ist Tochter jenes Bauern Wiese, der in Gedelitz die letzte Kneipe vor dem Zwischenlager Gorleben betreibt. 14 Jahre lebte sie in Göttingen, politisch abstinent, berufstätig und Mutter. Doch als der erste Castor-Transport anstand, wollte sie auch in Göttingen etwas auf die Beine stellen, begann alle möglichen Gruppen und Initiativen abzuklappern, traf auf offene Ohren. Heute sitzt Gerlinde Wiese im Hannoverschen Demo-Organisationsbüro, gibt dafür zwei Jahresurlaube her, organisiert Sonderzüge, Busse, Trecker- und Fahradcorso. „Ich hatte einfach das Gefühl, wenn ich jetzt nicht etwas gegen die Atomenergie tue, dann kann ich es auch für den Rest meines Lebens bleiben lassen“, sagt sie.

Leider hat sie recht. Jetzt oder nie. Das Jahr 1995 ist das Jahr des Roll-back der Atomindustrie. SPD-Konsens-Chef Gehard Schröder geht mit einem konsequenten „Weiter so!“ in die Verhandlungen. Anstelle des Ausstiegs will er das „Auslaufen“ der AKW. Das Regierungslager will nur die Modalitäten des Neubaus von Reaktoren diskutieren. Dafür läßt Angela Merkel die Sicherheitsstandards senken und hat entdeckt, daß die DDR nicht nur den Wartburg hervorgebracht hat, sondern auch das einzige deutsche Endlager für Atommüll. Morsleben soll wieder für mittelaktiven Müll geöffnet werden, obwohl der nasse Schacht, der einst auch eine Broilerzucht beherbergte, nach bundesdeutschem Atomrecht nie als Endlager genehmigt würde.

Schließlich der erste Castor-Transport nach Gorleben. Er sollte beweisen, daß nach langen Jahren eines faktischen Moratoriums wieder Atomanlagen in Betrieb genommen werden können. Nimmt man ein paar Jahre mehr in den Blick, kommt weiteres hinzu: Alle Versuche von rot-grünen oder SPD-Landesregierungen, einzelne Reaktoren stillzulegen, blieben folgenlos. Selbst betagte Mühlen wie das AWK Stade sind am Netz, genauso wie das AKW Krümmel, dessen Betreiber sich keineswegs wegen fahrlässiger Körperverletzung oder gar wegen leukämiekranker Kinder verantworten müssen. Ohne Resultat blieb auch der Versuch, den Atommüll als Hebel für den Ausstieg zu nutzen, wie es vor allem die niedersächsischen Grünen im Jahre 1990 bei ihrem Eintritt in die hiesige Landesregierung wollten. Ausgerechnet Gerhard Schröder war es, der schon in der ersten Konsensrunde die Zwischenlagerung hochradiaoktiven Mülls als Entsorgungsnachweis gelten lassen wollte. Inzwischen will er vier deutsche Brennelementelager in Betrieb nehmen, in jeder Himmelsrichtung eins. Die Dauerzwischenlagerung, das heißt, die geplante atomare Altlast, ist nicht nur die billigste Entsorgung, sie eröffnet der Atomindustrie völlig neue Überlebenszeiten.

Noch immer sind 70 Prozent der Bundesbürger für den Ausstieg – nur haben sie von den Regierungen weniger zu erwarten denn je. Doch das scheint sich rumgesprochen zu haben. Auf der Anti-AKW-Bundeskonferenz tauchen gerade erst gegründete Bürgerinitiativen auf, im Wendland haben SchülerInnen protestiert, für die das die erste Demo war.

Sicher ist die Zeit der bundesweiten Großkundgebungen vorbei, es gibt kaum noch örtliche Aktivistenzirkel, die Plakate kleben, Vorbereitungsveranstaltungen organisieren, Busse bestellen. Auf das flächendeckende Netz grüner Kreisgeschäftsführer hofft man wohl vergeblich. Aber darin liegt auch eine Chance. Die BI Lüchow-Dannenberg hat gezeigt, daß schon einige tausend viel bewegen können. 10.000 in Hannover – auch das wäre was. Ich bin gespannt.