Plädoyers für „Alleintäter“-Version

Solinger Mordprozeß: Die „Unschuld“ von drei der vier Angeklagten gilt psychologischen Gutachtern als „wahrscheinlichere“ Variante / Warum wurde das erste Geständnis widerrufen?  ■ Von Walter Jakobs

Düsseldorf (taz) – Das war gewiß ein Treffer für die Verteidiger. Denn so eindeutig wie der emeritierte Psychiater und Sachverständige Prof. Dr. Lempp ist noch kein vom Gericht bestellter Gutachter den Anklägern im Solinger Mordprozeß in die Parade gefahren: „Der Tatverlauf gemäß Anklage ist aus psychologischer Sicht nicht wahrscheinlich.“ Einen „Beweis“ für die Unschuld von drei der vier Angeklagten könne er zwar nicht erbringen, aber daß er die Alleintäterversion für die wahrscheinlichere hält, daran ließ der Sachverständige Lempp am Mittwoch im Gericht keinen Zweifel. Ihm oblag die Begutachtung von Christian B. (22), der seit seiner Verhaftung jede Tatbeteiligung bestreitet.

Ähnlicher Meinung wie Lempp ist der Essener Jugendpsychiater Prof. Eggers. Er untersuchte den Angeklagten Christan R., nach eigenem Bekenntnis „Alleintäter“. Es sei zwar nicht seine Aufgabe Urteile zu sprechen, aber, so gestand Eggers auf Nachfrage ein, er selbst halte die „Alleintäterversion für die plausiblere“.

Nun, die Liste psychiatrischer Fehldiagnosen in Gerichtsverfahren ist lang – erinnert sei hier nur an den Fall des RAF-Mitgliedes Peter-Jürgen Boock, in dessen Lügengestrüpp sich einst Psychiater und linksliberale Unterstützer gleichermaßen verfingen –, aber nicht weniger zahlreich bemißt sich die Zahl der Justizirrtümer. Auch Verurteilungen aufgrund von Geständnissen Unschuldiger kennt die Justizgeschichte. Läßt sich Markus Gartmann (25), der bis zu seinem Widerruf am 21. März 1995 immer wieder erklärt hatte, er und seine drei Mitangeklagten seien die Täter, in diese Reihe einordnen? Nach Sichtung der Fachliteratur kommt die Psychiaterin Dr. Nowara zu dem Ergebnis, daß die dokumentierten Fälle falscher Selbstbezichtigungen „absolut nicht mit dem hiesigen Fall zu vergleichen sind“. Anders als bei früheren Fällen weise Gartmann eben nicht gravierende Intelligenzdefizite oder schwere psychiatrische Störungen auf. Wenn falsche Geständnisse unter „ganz massivem Druck“ zustande gekommen seien, sei der Widerruf zudem regelmäßig „viel früher“ gekommen als im Düsseldorfer Verfahren.

Eindeutige Schlüsse läßt indes auch der Blick in die Justizgeschichte nicht zu. Generell gelte, so Gartmann-Gutachter Prof. Leygraf, „daß sich die Richtigkeit eines Geständnisses mit psychologischen Methoden nicht beurteilen läßt“. Selbst Aussagen über Wahrscheinlichkeiten seien wissenschaftlich seriös „nicht möglich“.

Von solcher Zurückhaltung war bei dem Vortrag des Gutachters Lempp indes nichts zu spüren. Lempp, eigentlich für Christian B. zuständig, lieferte auch gleich noch eine „Analyse“ zum Gartmann- Verhalten. Dessen Geständnis könne durchaus durch den Vernehmungsdruck ausgelöst worden sein. Das möglicherweise „entscheidende Motiv“ sieht Lempp allerdings in der Familiensituation. Daß Gartmann wenige Tage nach der Tat im Beisein von Polizeibeamten seinem Vater gegenüber per Kopfnicken die Tatbeteiligung gestanden habe, könne man auch als eine Überprüfung des bis dahin schwierigen Vater-Sohn-Verhältnisses deuten. Motto: „Ich will sehen, ob der Vater zu mir hält“. Später habe Gartmann dann seinen Anwalt Benecken, demgegenüber er ebenfalls die Tat gestanden hatte, als „Ersatzvater“, der „ihm die Tat zutraut und trotzdem zu ihm hält“, angesehen.

Und warum dann der Widerruf? Weil, so Lempp, einerseits die Gefahr bestand, „daß ihm eine Falschaussage bewiesen wird“. Zum zweiten habe der „Reifeprozeß“ während der zweijährigen U-Haft dazu geführt, „daß er keinen Vater mehr braucht“. In der nächsten Woche will das Gericht Lempp erneut hören.

Weil es in diesem Verfahren Sachbeweise nicht gibt, kommt den psychologischen Deutungsversuchen von Geständnissen, Widerrufen und Zeugenaussagen bei der Beweiswürdigung eine erhebliche Bedeutung zu. Während die Bundesanwaltschaft das Bekenntnis von Christian R. zur Alleintäterschaft am Dienstag dieser Woche als „Höhepunkt einer schauerlichen Inszenierung“ bezeichnete, sehen die Verteidiger der nun unisono ihre Unschuld beteuernden drei anderen Angeklagten darin die Aufklärung des Solinger Verbrechens.

Für die Anwälte der Familie Genç, die durch den Brand fünf Angehörige verlor, ist diese Alleintäterversion dagegen „kalter Kaffee“. So sei nach der Anhörung der Brandgutachter klar, daß etwa der Brand nicht allein mit Zeitungen, wie von R. behauptet, gelegt worden sein könne.

Mit einem leidenschaftlichen Appell meldete sich in dieser Woche der Vater des Angeklagten Felix K. zu Wort. Für Ernst K. steht als Ergebnis der Beweisaufnahme die „Alleintäterschaft“ fest. Wer das nicht akzeptiere, leide an „Realitätsverlust“. Eindringlich forderte der in linken Bürgerrechts- und Friedensorganisationen engagierte Mediziner das Gericht auf, seinen „unschuldigen“ Sohn endlich aus der U-Haft zu entlassen. Er habe Angst, daß der Prozeß in einem „gigantischen Justizirrtum ende“. Es sei jetzt auch für die Bundesanwaltschaft an der Zeit, „Größe“ zu zeigen und den Weg für „eine vollständige Rehabilitierung“ frei zu machen.