■ Das Kölner Aids-Urteil und das Recht auf Nichtwissen
: Mit Klauen und Zähnen

Das Kölner Urteil gegen heimliche HIV-Tests ist wunderbar. Aber es kommt streng genommen fast zehn Jahre zu spät. Denn die wilde Testerei erlebte schon in den 80er Jahren ihren Höhepunkt. Die Ärzteschaft stand der emotional hochgepushten Krankheit Aids hilflos gegenüber. Um überhaupt etwas zu tun, wurde kräftig Blut abgenommen und nach Antikörpern gefahndet. Mit und ohne Einverständnis der Betroffenen. Natürlich ging es auch darum, den Ermittler zu spielen, Schwule und Fixer zu „entlarven“, die Infektionsträger dingfest zu machen.

Inzwischen hat die Test-Manie nachgelassen, aus der gesellschaftlichen Debatte ist die Forderung nach Massentests verschwunden. Beim Blut-Aids-Skandal erlebte der Test in Gestalt von Minister Seehofers glorreichem Vorschlag, alle in Deutschland entnommenen Blutproben grundsätzlich auch auf HIV zu testen, ein kurzes Comeback, um dann, als teure Schnapsidee geoutet, schnell wieder zu verschwinden. Und der oberste Testomane im Lande, Schwulen-Jäger Peter Gauweiler, ist heute Politrentner ohne großen Einfluß.

Dennoch, in vielen Krankenhäusern wird noch immer ohne Einwilligung der Patienten getestet. Da die meisten Blutproben „HIV-negativ“ sind, erfährt niemand davon. Privatpatienten, die einen Nachweis der erbrachten medizinischen Leistungen erhalten, sind dagegen baß erstaunt, wenn sie den Test plötzlich auf ihrer Abrechnungsliste finden.

Deshalb ist das Kölner Urteil auch heute noch wichtig. Die Aussicht auf Schadensersatzzahlungen und einen öffentlichen Prozeß wird in der Ärzteschaft Wirkung zeigen. Zugleich ermutigt das Urteil alle Betroffenen, gegen die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts zu klagen.

Das Urteil hat aber noch eine andere, grundsätzlichere Bedeutung, die über Aids hinausreicht. Es bestätigt das „Recht auf Nichtwissen“ und strahlt damit weit in die aktuelle medizinische Zukunft hinein. Tests und Massen-Screenings sind nämlich nicht nur zur Beruhigung monomaner Sicherheitsfanatiker in Sachen Aids denkbar. Sie werden immer öfter auch im Kontext von „schlechten“ Genen diskutiert. Schillerndstes Beispiel ist das neu entdeckte Brustkrebs- Gen BRCA-1. In den USA sind inzwischen schon Hunderte von Frauen auf dieses Gen untersucht worden. Als direkte Folge positiver Testbefunde wird von Todesängsten, Depressionen, Selbstmorden und panikartigen vorsorglichen Brustamputationen bei Frauen mit dem Krebs-Gen berichtet. Alle Frauen, bei denen das Gen entdeckt wurde, müssen Jahre, womöglich Jahrzehnte als „Vor-Krebs-Patientin“ unter dem Damoklesschwert leben. Und genau wie bei Aids können die Ärzte ihnen nicht helfen. Beim Brustkrebs und bei anderen auf der „Gen-Karte“ ablesbaren Krankheiten wird das selbe Recht auf Nichtwissen mit Zähnen und Klauen gegen die Zudringlichkeit der Forscher zu verteidigen sein. Die Forscher brauchen „Patientengut“, um ihre Erkenntnisse in Langzeitstudien zu erhärten. Die Patienten aber brauchen Schutz und die segensreichen Wirkungen der Ahnungslosigkeit.

Auch deshalb ist das Kölner Urteil so wichtig. Manfred Kriener