Niederlage in Old Trafford

Heute werden in England und Wales die Bezirksräte neu gewählt / Die konservativen Tories erwartet eine weitere Schlappe  ■ Aus Trafford/Greater Manchester Ralf Sotscheck

Im „Kashmir Valley“, wo das höllisch scharfe, aber nicht besonders gute Tikka-Huhn im Stanniolnapf serviert wird, hängen Plakate von Fußballspielern an der Wand. Der indische Schnellimbiß liegt an der Chester Road in Old Trafford, gleich hinter dem Fußballstadion von Manchester United, einem der berühmtesten Clubs der Welt. Der Fußball beherrscht das Viertel, das sich mit seinen kleinen Reihenhäusern und der hohen Arbeitslosigkeit vom ansonsten wohlhabenden Trafford deutlich unterscheidet. „Wir sagen gerne, daß Old Trafford eigentlich schon zur Stadtverwaltung von Manchester gehört“, sagt Pauline von der Pressestelle des Rathauses, „aber das stimmt natürlich nicht.“

Wenn das „Kashmir Valley“ leer ist, setzt sich Sammy, der Koch, vor die Tür in die Sonne und unterhält sich mit Dave vom benachbarten „Red Star“-Souvenirladen, wo der United-Fan kaufen kann, was das Herz begehrt: Trikots für 35 Pfund, gerahmte Bilder der Stars für dreineunundneunzig und das „Philosophie-Buch“ des französischen Mittelfeldspielers Eric Cantona, der bis September gesperrt ist, weil er einem rechtsradikalen Fußballfan beidbeinig ins Gesicht gesprungen ist. Doch bei dem schönen Wetter kommt niemand in den stickigen, engen Laden.

Nebenan bei Ladbroke's, dem Buchmacherladen hinter roter Holzfassade, ist etwas mehr los. Hier kann man nicht nur auf Fußballvereine wetten, sondern auch auf Pferde, Hunde oder die Versöhnung zwischen Prinz Charles und Lady Di. Und wie ist die Quote für eine Wette, daß die Tories ihre Mehrheit in Trafford bei den Kommunalwahlen in England und Wales verteidigen? Die beiden Frauen hinter dem Annahmeschalter am Ende des Ladens wissen es nicht. „Warum willst du denn auf die Tories setzen?“ fragt der hagere alte Mann, der eine Tabakpfeife zwischen seine Zahnruinen geklemmt hat und auf einem der acht Monitore an der Wand ein Pferderennen beobachtet. „Für die gibt doch keiner einen Pfifferling. Setz lieber auf Krystallos beim Acht-Uhr-Rennen in Windsor, da hast du eine reelle Chance.“

Trafford, das zum Verwaltungsdistrikt Greater Manchester gehört, ist der letzte metropolitanische Bezirk in Großbritannien, in dem die Tories eine Mehrheit haben. Von den 63 Bezirksräten in den 21 Wahlkreisen stellen sie 35, die Labour Party 23 und die Liberalen Demokraten fünf. Ein Drittel dieser Sitze steht bei den Kommunalwahlen heute zur Disposition. Ein Verlust von nur vier Mandaten würde schon genügen, und die Konservativen müßten die Macht in Trafford abgeben. Doch niemand rechnet damit, daß es bei dem Machtwechsel in Trafford bleibt. So glimpflich werden die Tories nicht davonkommen. Die Medien prophezeien ihnen eine „Apokalypse“, zumindest jedoch eine Katastrophe wie schon bei den Kommunalwahlen in Schottland vor vier Wochen, als sie von der politischen Landkarte getilgt wurde. In England und Wales geht es heute um 12.300 Sitze. Es sind diesmal so viele, weil neben den Bezirken, die – wie in Trafford – jedes Jahr einen Teil ihrer Räte neu wählen, auch die Gemeinden dran sind, wo sich alle vier Jahre der gesamte Bezirksrat zur Wahl stellt. Beim letzten Mal, 1991, lagen Labour und die Konservativen bei Meinungsumfragen Kopf an Kopf. Seitdem sind die Tories auf 23 Prozent gesunken, während Labour bei 58 Prozent liegt. Selbst wenn man in Betracht zieht, daß die Labour Party bei Wahlen stets um zehn Prozent schlechter als in den Voraussagen abschneidet, geht bei den Tories die Angst um. Sie müssen heute 4.000 Sitze verteidigen, wären aber schon mit dreiviertel davon hochzufrieden. Realistischer sind wohl die Prognosen, daß die Hälfte der Mandate verlorengehen wird. Sollten sie neben Trafford auch das benachbarte Macclesfield verlieren, dann wäre Premierminister John Majors Wahlkreis Huntingdon bei Cambridge der nördlichste Vorposten der Tories. In Wales droht ihnen ein ähnliches Ergebnis wie in Schottland – der Sturz in die Bedeutungslosigkeit.

In der Warwick Road, die gegenüber vom Kashmir Valley nach Süden führt, liegt rechts hinter Bäumen das große Rathaus mit Glockenturm aus roten Ziegelsteinen. An der Wand neben dem Eingang hängt das furchterregende Stadtwappen: zwei Einhörner, ein geflügelter Drache und ein tätowierter Arm, der aus dem Teil einer Ritterrüstung herausragt und Blitze schleudert. Eine symbolische Warnung an die Tories? „Ich will mich nicht über die Aussichten der verschiedenen Parteien äußern“, sagt Pauline von der Pressestelle und fügt mit hintergründigem Lächeln hinzu: „Nur soviel: Das Interesse an Trafford ist zur Zeit sehr groß.“ Das Motto im Stadtwappen zwischen den Hinterbeinen der aufgerichteten Einhörner klingt wie eine Beschwörungsformel der Major-Regierung: „Halte fest an dem, was gut ist.“

Doch gut sind die Tories inzwischen nicht mal mehr für ihre eigenen Leute: Aus einem Bericht der Unterhaus-Bibliothek, der Anfang der Woche herausgekommen ist, geht hervor, daß die Langzeitarbeitslosigkeit gerade in den Tory- Hochburgen am stärksten angestiegen ist. Trafford ist dafür ein Beispiel. Das Industriegelände Trafford Park begeht 1996 sein hundertjähriges Jubiläum. Seine Existenz verdankt es dem Manchester-Schiffskanal, der 1894 gebaut wurde, weil die Hafenverwaltung von Liverpool den Händlern aus Manchester exorbitante Gebühren abverlangte. So beschlossen die Stadtoberen, das Meer mit Hilfe des Kanals nach Manchester zu holen. Das Industriegebiet expandierte schnell, während des Zweiten Weltkriegs arbeiteten dort 75.000 Menschen. Hier wurden damals auch die Motoren für die berüchtigten Lancaster-Bomber gebaut.

Heute sind nur noch 24.000 Menschen im Trafford Park beschäftigt, obwohl die Bezirksverwaltung Anfang der siebziger Jahre gemeinsam mit Unternehmern einen Rat zur Rettung von Trafford Park gegründet hat. Zu den Initiatoren gehörte übrigens auch Winston Churchill, der Unterhaus-Abgeordnete aus Trafford und Enkel des gleichnamigen Kriegspremiers. Winston junior ist in der vergangenen Woche in die Schlagzeilen geraten: Er hat nicht etwa das Industriegebiet saniert, sondern sich selbst, indem er dem Staat die Akten und Privatpapiere seines Großvaters für umgerechnet mehr als 30 Millionen Mark verkauft hat. Auch das hat die Wahlchancen der Tories nicht gerade vergrößert. Selbst Tory-Anhänger sind empört, daß die Regierung die Lottogelder verpulvert, um einen der ihren vor dem Bankrott zu retten. Winston Churchill, der Enkel, ist nämlich Einleger bei Lloyds und haftet mit seinem Privatvermögen für deren enorme Verluste.

„Langzeitarbeitslosigkeit und Jobunsicherheit haben seit den letzten Unterhauswahlen in allen Tory-Verwaltungsbezirken stark zugenommen“, sagt Labours Arbeitsmarktexperte Ian McCartney, „und die Konservative Partei wird dafür einen hohen Preis an der Wahlurne bezahlen.“ Die Arbeitslosenzahlen erklärten, so McCartney, warum den Tories der „Feel good factor“ – jener Seismograph für die Zufriedenheit mit der Regierung – so schwer zu schaffen macht. Selbst Schatzkanzler Kenneth Clarke räumt ein, daß dieser Faktor wohl erst nach den nächsten Parlamentswahlen durchschlagen wird. Und Lord McAlpine, der frühere Kassenwart der Tories, ist davon überzeugt, daß seiner Partei ein Weilchen in der Opposition durchaus guttun würde – um dann mit frischer Kraft und neuem Mut bei den nächsten Wahlen die Macht zurückzuerobern.

Das könnte sich als Irrtum erweisen. Die heutigen Wahlen sind deshalb so wichtig, weil sie vielleicht einen Niedergang der Tories einleiten, von dem sich die Partei lange Zeit nicht erholen wird. Wenn morgen nach Auszählung der Stimmen 2.000 Tory-Bezirksräte wegen der Politik ihrer Regierung – denn die wird an der Urne bestraft, nicht die Leistungen der KommunalpolitikerInnen – auf der Straße stehen, so wird sich ihr Einsatz für „ihren“ Unterhaus-Kandidaten im nächsten Wahlkampf in Grenzen halten: Er ist in ihren Augen ja mitschuldig an ihrer Misere. Hunderte von Tory- KandidatInnen haben vor den heutigen Wahlen ihre Parteibücher versteckt und treten als Unabhängige an. Auf den Wahlzetteln tauchen sie als „Hortikulturistin“ oder „Your Local Man“ auf. In vielen Wahlkreisen haben sie schon vor den Wahlen das Handtuch geworfen und überlassen der Opposition kampflos das Feld. Eine beträchtliche Zahl konservativer KommunalpolitikerInnen wird sich nach der heutigen Schlappe ins Privatleben zurückziehen.

Doch ohne ihre KommunalpolitikerInnen sind die Tory-Bezirksverbände nichts weiter als Rentnerclubs. Das Durchschnittsalter liegt jetzt schon bei 62, die Mitgliederzahl der Jungen Konservativen ist auf 5.000 gesunken. Dagegen hat die Labour Party 100.000 Neuaufnahmen zu verzeichnen, seit Tony Blair im vergangenen Sommer nach dem plötzlichen Herztod von John Smith zum neuen Parteichef gewählt worden ist.

Hinzu kommen bei den Tories finanzielle Probleme: Bei den Banken stehen sie mit umgerechnet 35 Millionen Mark in der Kreide, die Spenden der Industrie sind seit 1988 um ein Sechstel zurückgegangen. Wer setzt schon gerne auf Verlierer? Die Labour Party macht der Wirtschaft längst keine Angst mehr, seit Blair unverblümt in Tory-Gewässern fischt – zuletzt am Samstag, als er seine Partei auf die freie Marktwirtschaft und den Konkurrenzkampf einschwor.

Gegenüber vom Rathaus liegt der Lancashire County Cricket Club, eins der berühmtesten Stadien, in denen dieser typisch englische Sport ausgetragen wird. Hier fand 1884 das erste Test Match zwischen England und einer seiner Kolonien statt. Am Stadionzaun an der Talbot Road ist für Ende Juli das Spiel gegen die West Indies angekündigt.

Ein etwa 60 Jahre alter Grauhaariger, der trotz des strahlenden Sonnenscheins einen Anzug mit Krawatte und einen langen Treviramantel trägt, erkundigt sich am Eingang nach Eintrittskarten, doch der Mann vom Wachdienst weiß nicht, wann der Vorverkauf beginnt. Wie das Fußballstadion von Manchester United, so heißt auch das Cricketstadion „Old Trafford“, doch damit enden auch die Gemeinsamkeiten. Hier am Lancashire Cricket Club beginnt der wohlhabendere Teil Traffords, die Straßen sind breiter, die Häuser haben gepflegte Vorgärten. Die wirklich Reichen wohnen im Süden, in den ländlichen Gegenden von Bowdon, Hale und Dunham Massey.

„Was den Tories bei den Kommunalwahlen den Garaus machen wird“, sagt der alte Cricket-Fan, der vor seiner Pensionierung Offizier bei der britischen Armee war, „ist die Apathie unter ihren Wählern. Ich habe mein Leben lang konservativ gewählt, aber nach all den Korruptionsskandalen und Sex-Affairen der Tory-Abgeordneten bleibe ich diesmal zu Hause. Noch bringe ich es nicht über mich, Labour zu wählen, aber die Tories bekommen meine Stimme vorerst nicht mehr.“