Winzige Boliden

Die kleine Welt der Carrera-Flitzer  ■ Von Thomas Meiser

Kamp-Lintfort (taz) – Überall Autos. Von überall her. In den Autohäusern an der Straße warten Hunderte Familienkutschen auf Bewegung. Und etwas abseits dieser Motormeile flitzen winzige Boliden im Karree. In einer Lagerhalle an Kamp-Lintforts Autostrada hat sich ein Freundeskreis von großen Jungen einen Kindertraum erfüllt. Das runde Dutzend junger Herren schuf dort für sich, seine Nachfahren und den Rest der Welt zwei riesige Carrera-Bahnen. Hier an der Oststraße wuchs zusammen, was zusammengehört. Streckenteile, die zuvor jahrelang in Kellern verstaubten, fügen sich zu zwei jeweils 30 Meter langen Pisten. Und zwar gleich vierspurig. Mit allen Schikanen: Steilkurve, Beschleunigungsgeraden und Haarnadelkurven jagen einander.

In acht Sekunden drehen die kleinen Rennmaschinen eine Runde in ihrer Spur. In Sichtkontakt sitzen die Piloten auf einer Tribüne in ihren Schalensitzen. Wenn die Fahrer den Daumen auf den Gasknopf senken, geht die Post ab – sofern die Kiste nicht aus dem Rennen fliegt. Den seit Jugendtagen trainierenden Slot-Car-Profis passiert das jedoch äußerst selten. Im professionellen Rennbetrieb auf der Modellbahn kriegt man die Kurve eben leichter als draußen auf dem Ring. Und sollte während eines Wertungsrennens falsches Bremsen ein Fahrzeug aus der Kurve tragen, setzt es ein Streckenposten sofort wieder in die Spur. Neben dem Zeitverlust hat der Renner dann noch ein Handicap. Weil sich neben dieser vielbefahrenen Bahn, richtigen Rennstrecken entsprechend, der Abrieb der Reifen sammelt, fährt das ausgerutschte Fahrzeug anschließend ein paar Runden mit verschmutzten Reifen, was weitere wertvolle Sekunden kostet.

Wie jedes gute Hobby ist die kleine Welt der Carrera-Flitzer eine große Wissenschaft für sich. Selbst Führerschein-Inhaber verstehen häufig Bahnhof. Deswegen jetzt mal aufgepaßt: Wann Moosgummi-Pneus aufziehen? Und wann Reifen aus Hartgummi? Wer auch bei Regen fährt, versteht, die Reifenwahl hängt von der Pistenbeschaffenheit ab. Verständlich ist außerdem, daß bei optimaler Aerodynamik Motorblock und Karosserie möglichst tief zu legen sind. Wegen dieser Sache mit dem niedrigen Schwerpunkt und dem größtmöglichen Abtrieb und so. Klar ist auch, daß die Getriebeübersetzung Beschleunigung und Geschwindigkeit beeinflußt. Das gilt natürlich gleichermaßen für Motorkraft und Fahrzeuggewicht. All das muß selbstverständlich während der Rennvorbereitung berücksichtigt werden.

Außerhalb ihrer Lagerhalle, auf dem Weg zum Auto, erkennt man die Modellrennfahrer an ihren Pilotenkoffern aus Aluminium. Darin befinden sich Motoren, Karossen, Reifen, Getriebe und jede Menge Uhrmacherwerkzeug. Aber um jetzt mal wirklich innovativ zu werden: Optimal wäre doch wohl ein Carrera-Modellauto mit einem Megaantrieb, das sich durch ein veränderbares elektromagnetisches Feld derart an die metallische Stromschiene anschmiegt, daß es jede Kurve ideal nimmt. Eine High-Tech-Schüssel, eine Jugend-forscht-Erfindung, die einfach nicht aus der Bahn fliegen kann. Volle Elle Vollgas geben, wie die S-Kläßler auf der Bahn des Lebens.

Nur: so was Feines ist leider verboten. Nicht Technik, sondern fahrerisches Können soll über Sieg oder Crash entscheiden. Um sich solcherart zu messen, geht der Lintforter Carrera-Club mit Fahrzeugen und Fans einmal im Jahr auf große Fahrt. Denn zeitgleich mit dem 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring läuft auf der Modellbahn nebenan genau dasselbe Rennen für die kleinen Flitzer. Lintforter Chefpiloten errangen letztens dort den dritten Platz. Mit einem Porsche 968 wurde der Ringnachbau im Carrera-Format 6.715 mal umkreist.

Noch brennt die rote Lampe des Startcomputers in der Lagerhalle, und alle Räder stehen still. Ein Wimpernschlag, dann gibt es grünes Licht. Jetzt läuft die Zeit fürs Vollgas. Wie jeden Sonntag sieht man Väter und Söhne fiebrig blicken. Und die Daumen drücken.