Die eigene Witwe erneut geheiratet

Das Doppelleben eines Nazi-Verbrechers und späteren angesehenen linksliberalen Hochschulrektors wurde erst jetzt enttarnt / Erpressung und Vertuschung unter Mitwissern  ■ Aus Aachen Bernd Müllender

Auch 50 Jahre danach leben hochgestellte Nazi-Führer noch putzmunter mitten unter uns. Wie Professor Dr. Hans Schwerte, heute 85, namhafter Literaturwissenschaftler und ehemals Rektor der Technischen Hochschule Aachen.

Schwertes wirklicher Name: Hans-Ernst Schneider, SS-Hauptsturmführer, tätig im Zentrum des völkischen Terrors in Himmlers Verbrecherorganisation „Ahnenerbe“. Schneider wußte, daß ihm zwei niederländische Journalisten vom Fernsehsender „Nederland 1“ dicht auf der Spur waren. Deshalb trat er jetzt mit einer Selbstanzeige die Flucht nach vorn an.

Nicht ohne zu verdrängen und zu verdrehen: Allein „volkskundliche Forschungen“ seien ihm in der Organisation „Ahnenerbe“ aufgetragen worden, die sowieso nur „aufgeblasener Blödsinn“ und „eine Spielwiese“ gewesen sei zur „Stärkung des germanischen Elements“. Schneider will „keine Verbrechen im eigentlichen Sinn begangen“ haben. Und von Massenvernichtungen und Menschenversuchen — „nichts gewußt“.

Die Akten sprechen eine andere Sprache. Schon 1940 gehörte Schneider zum „persönlichen Stab des Reichsführers“ in der SS. Er wurde später in Berlin SS-Abteilungsleiter und vernichtete 1945 alleinverantwortlich alle Akten. Er arbeitete zur gleichen Zeit im berüchtigten Sicherheitsdienst SD in Den Haag wie der Kriegsverbrecher Klaus Barbie. Und er hat an niederländischen Universitäten medizinische Apparate für widerwärtige Menschenversuche und die vielhundertfachen Morde der „Ahnenerbe“-Abteilung im KZ Dachau requiriert.

Dem perversen Nazi-Arzt Dr. Rascher teilte die Berliner SS-Leitung 1942 mit: „Wie Dr. Schneider fernmündlich mitteilte, ist der Gesamtvorgang zur beschleunigten Erledigung weitergeleitet.“ Rascher möge bloß weitermachen, er, Schneider, „würde das auf seine Kappe nehmen“. Als Leiter der SS-Außenstelle Salzburg ließ Schneider die Bibliothek des jüdischen Schriftstellers Lion Feuchtwanger plündern. Im Zweitleben nach dem Krieg wurde der Literaturforscher Schwerte Honorarprofessor — in eben diesem Salzburg.

Nach dem Krieg galt der SS-Offizier Hans-Ernst Schneider als verschollen. 1945 hatte er sich eine zweite Identität als Hans Schwerte zugelegt, angeblich geboren am 3. Oktober 1910 in Hildesheim. Besonders dreist: Schwerte alias Schneider heiratete 1947 ein zweites Mal seine eigene Scheinwitwe Annemarie, gab den Behörden seine verstorbene Tante als Mutter an und adoptierte seine leibliche Tochter.

Und er drehte sich um 180 Grad, vom Germanen zum Germanisten. Schwerte war Goethe-, insbesondere Faust-Fachmann, und zwei Seelen, ach, wohnten in seiner Brust: In Aachen galt er als ausgewiesen fortschrittlich und linksliberal. Kurz nach '68 stand er in vorderster Reihe bei der demokratischen Hochschulreform. „Er war der Grandseigneur des Fachbereichs, absolut integer, bei allen Studenten überaus beliebt“, sagt ein ehemaliger Student, „und jetzt das: unfaßbar.“

Die Hochschule, volley getroffen in den Feierlichkeiten zum 125jährigen Bestehen, versucht den größten Skandal ihrer Geschichte („die Personalsache Hans Schwerte“) weit herunterzuspielen. Alle erklären sich tief erschüttert, schwer getroffen und hintergangen. Aber die Indizien verdichten sich, daß nicht wenige an der Hochschule von Schwertes Doppelleben wußten. Oder es leicht hätten herausbekommen können.

Gerüchte habe es schon lange gegeben, so der heutige Rektor ebenso wie das Wissenschaftsministerium. Indes, man habe entweder nichts gefunden oder sei, bespielsweise bei der Überprüfung seines angeblichen Geburtsortes Hildesheim, gescheitert — am Datenschutz!

„Datenschutz gegenüber Leuten“, hieß es Freitag abend kühl im Bericht von „Nederland 1“, „die dort nie existierten, gibt es nicht.“ Die Journalisten jedenfalls erfuhren sofort: Einen Hans Schwerte hat es in Hildesheim nie gegeben. Und damit war die Basis der Legende schon zerstört.

1956 lehrte Schwerte an der Uni Erlangen. Schon damals, räumte er ein, sei er erkannt worden. Aber wie das so geht unter Kollegen: „Man hat sich geeinigt.“ Damals ebenfalls Lehrkraft in Erlangen: Hugo Dyserinck. Als Schwerte 1965 einen Ruf nach Aachen erhält, folgt ihm Dyserinck und wird Anfang der siebziger Jahre unter Rektor Schwerte Lehrstuhlinhaber für Komparatistik. „Unter sehr merkwürdigen Umständen“ sei Dyserincks Berufung damals vonstatten gegangen, erinnert sich ein heutiger TH-Prof, und daß Dyserinck von Schwertes Vergangenheit gewußt haben soll, „ist intern ein offenes Geheimnis“. Dyserinck ist vor zwei Jahren ebenfalls emeritiert. 1974 ließ sich der ehemals in Holland so aktive SS-Offizier Schwerte alias Schneider vom damaligen Wissenschaftsminister Johannes Rau ausgerechnet zum NRW-Hochschulbeauftragten für die Zusammenarbeit mit den Niederlanden ernennen. Rau heute „kann es nicht fassen“. Er entschuldigte sich am Wochenende bei den Holländern.

Schneider, der heute in Aschau bei Rosenheim wohnt, kassiert seit über 16 Jahren die stattliche Pension eines emeritierten Professors. Nazi-Opfer und ihre Angehörigen betteln bis heute, oft erfolglos, um kleinste Entschädigungen — Schneiders Vermögen ist unangreifbar.

Warum er sich nicht früher geoutet habe? Schneider: „Ich hätte arbeitslos auf der Straße gestanden.“ Sein Bundesverdienstkreuz 1. Klasse (1983 von Johannes Rau) und die Ehrensenatorwürde der Hochschule (1991) will er großzügigerweise zurückgeben.

Die Zentralstelle zur Verfolgung von Nazi-Verbrechen in Ludwigsburg hat Ermittlungen wegen Mordverdacht und Beihilfe aufgenommen.

Die Recherchen sollen auch ans Licht bringen, wer an der TH Aachen mit dem Vertuschen von schäbigsten Nazi-Karrieren selbst Karriere gemacht hat.