Am Arsch will sie ihn packen

■ Das Fernsehspiel „Der große Abgang“ So., 21.15 Uhr, ARD

„Die Taten und der Tod Werner Pinzners“, so hatte der Gerichtsreporter des Spiegel, Gerhard Mauz, zu Prozeßbeginn gegen die Rechtsanwältin Isolde Oechsle-Misfeld geschrieben, seien ein „Kriminalroman, den jeder einschlägige Verlag als groteske, verrückte Übertreibung ablehnen würde.“

Wohl gerade deshalb hatte Pinzners Geschichte – besonders die seiner Todesumstände – Mitte der achtziger Jahre nicht nur mehrere Gerichte, sondern auch die gesamte deutsche Medienlandschaft beschäftigt: Denn der geständige „Auftragskiller“ hatte in einem blutrünstigen Showdown auf dem Hamburger Polizeipräsidium seine Frau Jutta, den Staatsanwalt Bistry und schließlich sich selbst erschossen. Schnell wurde aus dem Pinzner-Fall ein Drama um die zwielichtige Verteidigerin Isolde Oechsle-Misfeld, die ihrem süchtigen Mandanten allzu weit entgegengekommen war: Sie hatte ihm regelmäßig Kokain in die Haftanstalt gebracht und soll auch die Tatwaffe besorgt haben.

Fast zehn Jahre danach hat sich nun doch eine Fernsehanstalt gefunden, die sich dieses „Kriminalromans“ annahm. Aber das TV- Spiel „Der große Abgang“ beruht nur zum Teil auf dessen Tatsachen. Norbert Ehry (Buch) und Nico Hofmann (Regie) mußten sich für ihren Beitrag zur ARD-Reihe „Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ in einigen Punkten von ihrer Vorlage entfernen. Nicht nur aus dramaturgischen Gründen, sondern wohl auch aus juristischen: Für die Exklusivrechte an den Wahrheiten hinter der Wahrheit wird heute viel Geld verlangt. Und die Geschichte der Pinzner-Morde hat zudem so viele bis heute ungeklärte Facetten, daß hier die Spekulation der Wahrheit wohl tatsächlich am dienlichsten war.

Denn so, wie er nun erzählt wird, ist der „Große Abgang“ sehr spannend, sehr einleuchtend und sehr schlüssig. Die schillernde Rolle der Verteidigerin Oechsle- Misfeld wurde kurzerhand gestrichen. Ihre Verstrickung in den Fall „Pinzner“ verlegte Ehry in die Figur der Staatsanwältin Lampert, die sich aus übersteigerter Rechtsgläubigkeit, gefährlicher Faszination für das Böse und zunehmend distanzlosem Ehrgeiz zu zweifelhaften Ermittlungsmethoden hinreißen läßt. Eine Anspielung auf die Hamburger Staatsanwaltschaft, der vorgeworfen wurde, ihren Kronzeugen Pinzner gegen geltendes Recht zu einem „Häftling erster Klasse“ gemacht zu haben, um ihn so zur Preisgabe seiner Auftraggeber zu bewegen.

Birgit Doll spielt die somit psychologisch doppelt belastete Schlüsselfigur der Staatanwältin immer dann mit eisiger Kälte, wenn sie dem vor Sprunghaftigkeit und Verzweiflung glühenden Killer Axel Bode (Ex-ARD-Fahnder Jörg Schüttauf) gegenübertritt, und begegnet dem kaltlächelnden Kiezkönig Jakob Glinz (Dietmar Mues) mit glühender Leidenschaft. „Am Arsch“ will sie ihn „packen“, und man weiß bald nicht mehr so recht, was sie damit eigentlich meint. Wie Isolde Oechsle-Misfeld entgleitet auch ihr alsbald jeder Sinn für die Realität, aus der sich Bodes drogensüchtige Ehefrau Irmgard längst verabschiedet hat. Die ist das Opfer aller gegenläufigen Interessen – selbst in ihrem willensstärksten Moment, wenn sie sich demütig vor ihrem Mann niederkniet, um sich eine Kugel in den Hals jagen zu lassen. Man merkt Barbara Auer an, daß sie es als Herausforderung empfunden haben muß, diese ausschließlich durch Schwäche charakterisierte Figur mit starken schauspielerischen Momenten plausibel zu machen.

Überhaupt sind es vor allem die pointiert entworfenen und präzise ausgespielten Figuren, die den „Großen Abgang“ zu einem großen Fernsehspiel machen. Daß die ARD in ihrer Ankündigung nicht offen auf die deutlichen motivischen Anlehnungen an das Pinzner-Drama verweist, zeugt nicht nur von juristischem Feinsinn, sondern auch von Souveränität. „Der große Abgang“ hat reißerische Labels wie „Die wahre Begebenheit“ nicht nötig – auch wenn er diese in ihren psychologischen Teilen sogar ein wenig erhellt. Elke Ribbert