Zwei Mahlzeiten und eine Bambusmatte in der Küche

■ Nach US-Abzug und Gleichschaltung der beiden Vietnams ging es ökonomisch bergab / Die spätere Öffnung zum Westen hat nur Städtern zu Wohlstand verholfen

Für den 60jährigen Wirtschaftshistoriker Nguyen Van Minh markiert das heutige Jubiläum eines der folgenreichsten Daten in der vietnamesischen Geschichte: 30. April 1975 – Einmarsch der nordvietnamesischen Volksarmee in Saigon, Fall des südvietnamesischen Regimes und Wiedervereinigung Vietnams. Minh war Mitglied einer der ersten Delegationen hochrangiger Parteimitglieder, die von Hanoi aus in den befreiten Süden reisten auf der Suche nach Lösungen, um die entfremdeten Landeshälften zu vereinigen.

Die Parteiführung habe sich nicht einigen können, sagt er. Den lange Jahre im Süden aktiven Revolutionären sei unwohl gewesen bei dem Gedanken, den kapitalistischen Süden radikal auf Plan- und Kollektivwirtschaft umzuschalten. Zunächst wurde ein Parteikader aus dem südlichen Untergrund, Nguyen Van Linh, beauftragt, die beiden Landeshälften politisch und wirtschaftlich zu vereinigen – angeblich gegen seine persönlichen Überzeugungen. Zu hohe menschliche und wirtschaftliche Opfer müßten gebracht werden. So verbrachte er das Jahr 1977 damit, die Situation im Süden zu „studieren“, ohne Veränderungen zu erzwingen. 1978 fiel dann die Entscheidung, den Süden dem Norden gleichzuschalten.

Nguyen Van Linh wurde durch Do Muoi, den heutigen Parteichef, ersetzt. Der ehrgeizige Kader aus dem Norden ohne jegliche Erfahrung im Süden vollzog die kontroverse Aufgabe mit einer Linientreue, daß noch im gleichen Jahr die Produktion daniederlag und Hungersnöte im ganzen Land ausbrachen. „Der Süden verfügte über eine höher entwickelte Leichtindustrie. Das galt auch für den Dienstleistungssektor und die Landwirtschaft. Aber er hatte keine Rohstoffe. Zwei Wochen nach der Befreiung Saigons begann der Norden, Rohstoffe für die Produktion in den Süden zu liefern. Als Gegenleistung wurde der Norden in Konsumgütern bezahlt, auch solche, die die Amerikaner zurückgelassen hatten“, erklärt Minh. Nach seiner Geschichtsschreibung hat der ungeahnte Segen an heißbegehrten Produkten dem Schwarzmarkt den entscheidenden Impuls gegeben, der das Land letztendlich über Wasser gehalten hat. Das Ausmaß der Schwarzmärkte und des freien Handels im Lande, obwohl offiziell verpönt, läßt sich erahnen: Bis zu siebzig Prozent ihres Einkommens erschufteten die Bauern auf den fünf Prozent des Stückchen Landes, das ihnen der Staat für den Eigenbedarf überließ.

Im Sommer 1986 verschieden in schneller Folge Le Duan, Parteisekretär und wichtigster Entscheidungsträger seit 1960, dann sein Nachfolger Truong Chinh. Damit war der Weg zur Macht für den nur wenige Jahre zuvor in Ungnade gefallenen Nguyen Van Linh geebnet. Rechtzeitig zum Parteitag fand er sich in der Position wieder, eine Politik der Erneuerung, „Doi Moi“, die Öffnung zu westlichem Kapital und die Marktwirtschaft zur Staatspolitik zu erheben. Zwei Jahre später, nach Verabschiedung der entsprechenden Gesetze, ließen die Investoren, trotz Embargo, nicht lange auf sich warten.

Jetzt sind es die Städter, die am meisten von der wirtschaftlichen Liberalisierung profitieren. Viele erreichen durch bessere Ausbildung, durch zunehmenden Bedarf an Dienstleistungen und nicht zuletzt durch Beziehungen zu einflußreichen Beamten und Politikern einen Wohlstand, von dem die Landbevölkerung nur träumen kann. Nach dem letzten Jahresbericht des staatlichen Amtes für Statistik geben 51 Prozent aller ländlichen Haushalte an, daß sich ihr Lebensstandard in den letzten vier Jahren verbessert hat.

Für wie viele sich die Situation dramatisch verschlechtert hat, sagen die Statistiken nicht. Die Verlierer der Reformen drängen in die Städte, die Männer verdingen sich zu Hungerlöhnen auf den Baustellen derselben Luxusburgen, in denen später ihre Schwestern als Dienstmädchen arbeiten werden – manche schon für monatlich 70.000 Vietnamesische Dong (knapp 7 US-Dollar) sowie zwei Mahlzeiten und eine Bambusmatte in der Küche. Die Ehefrauen und Mütter bleiben in den Dörfern, kümmern sich um die Kinder und betreiben Landwirtschaft.

Der extrem arbeitsintensive Naßreisanbau wird größtenteils von Frauen betrieben. Deren Gesundheit, Ausbildung und Chancen für eine bessere Zukunft haben sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert. Oft bleiben nach ein paar Monaten die Geldsendungen der Ehemänner aus, weil sie zuwenig verdienen oder in den Städten neue Beziehungen eingegangen sind. Robin Meyers, Hanoi