„Deutsche gehen lieber ins Grüne“

Der 8. Mai in der deutschen Nachkriegsgeschichte: Ob an diesem Tag gefeiert wurde, war zonenabhängig, denn der Kalte Krieg war immer dabei  ■ Von Klaus Hillenbrand

Berlin (taz) – „Tag der Befreiung – Tag des Bekenntnisses zur ewigen Freundschaft mit dem Sowjetvolke“. So war das damals. „Doch dann widerfuhr uns die Gnade, daß wir noch einmal die Kraft fanden, von neuem zu beginnen“ (Bundeskanzler Ludwig Erhard). So war das damals?

Die Diskussion um Befreiung oder Kapitulation ist fast so alt wie die Befreiung oder Kapitulation. Ob die Deutschen freudig befreit wurden oder mit Schmach kapitulieren mußten, hing allerdings am allerwenigsten davon ab, ob der einzelne sich über seine Befreiung freute oder ob der Niederlage heulte, und auch nicht davon, ob er über die Folgen des 8. Mai reflektierte. Freude und Trauer waren vielmehr zonenabhängig. Ein Produkt des Kalten Krieges. Freude wurde jenseits der „Zonengrenze“ verordnet: „Heute gilt es, die Befreiung, die wir aus den Händen der Sowjetunion als Geschenk empfingen, auf ganz Deutschland auszudehnen“, heißt es eindeutig deutlich im Aufruf des Nationalrats der Nationalen Front der DDR vom 8. Mai 1950. Und weiter: „Das Gelöbnis am 5. Jahrestag der Befreiung lautet: Alle Kräfte einsetzen, um durch die Befreiung Westdeutschlands die Befreiung unseres Vaterlandes zu vollenden.“

Im so angesprochenen Westdeutschland sah man das naturgemäß etwas anders. Während in der DDR die Befreiung gefeiert wurde, gab es dort gar nichts zu feiern, ja nicht einmal etwas zu begehen. Aus den ersten Jahren der Bundesrepublik sind keine offiziellen Gedenkveranstaltungen überliefert. Wer sich der eigenen Niederlage positiv erinnerte, mußte im Adenauer-Deutschland eher schon mit polizeilicher Behandlung rechnen. So geschah es etwa am 8. Mai 1950 in West-Berlin, als die Ordnungskräfte eine Befreiungsfeier von 400 SED-nahen Reichsbahnern sprengten und die Verantwortlichen festnahmen. Während die DDR den 8. Mai frühzeitig zum Jubeltag funktionalisierte und ab 1950 als arbeitsfreien Feiertag beging, war er in der Bundesrepublik höchstens ein Tag des Gedenkens „im stillen Kämmerlein“ (so der CDU-Abgeordnete Rasner), an dem man sich der Opfer von Krieg und Vertreibung erinnerte. „Da war nichts“, erinnert sich Heinz Westphal, der 1945 in die SPD eintrat, ab 1965 im Bundestag saß und heute im Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ aktiv ist. „Das wurde nicht als Tag der Befreiung betrachtet“, so Westphal. „Schließlich kann man nicht behaupten, daß die Mehrheit der Deutschen 1945 gegen den Nationalsozialismus war.“ Heute, meint Heinz Westphal, „freue ich mich, daß so viele Menschen diesen Tag als Befreiung empfinden.“

Öffentliche Trauer oder gar Heldengedenken waren in den 50ern in der Bundesrepublik aber auch schlecht möglich, da man sich schließlich im Bündnis mit den 1945 siegreichen Westmächten befand. Diese Verdrängungskunst in Vollendung trieb zuweilen seltsame Blüten: Am 8. Mai 1957 etwa riefen Angestellte des Bonner Verteidigungsministeriums vergeblich beim großen Bruder Nato an. Dort nahm niemand den Telefonhörer ab. In Bonn hatte man nichts davon gehört, daß im Hauptquartier des westlichen Bündnisses in Fontainebleau der 8. Mai gefeiert und folglich nicht gearbeitet wurde ...

Wie wenig der „Tag der Befreiung“ (so der offizielle Name) in der DDR etwas mit der Reflexion der eigenen Schuld zu tun hatte, machen indes die staatlichen Losungen deutlich. Da heißt es am 8. Mai 1952: „Am Jahrestag unserer Befreiung danken wir J. W. Stalin, dem großen Lehrer und Führer der Weltfriedensfront, dem besten Freund des deutschen Volkes“. Und: „Dank dem Sowjetvolk für die Hilfe beim Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik, des Bollwerks im Kampf für Einheit, Frieden und Wohlstand der deutschen Nation“. So einfach war das: Aus vielen Nazis, noch mehr Mitläufern und wenigen Widerstandskämpfern waren nach nur sieben Jahren kollektiv Befreite geworden, die nurmehr den „ruhmreichen Helden der Sowjetunion“ zu danken und zu Hunderttausenden an das Sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow zu pilgern hatten. Am „Tag der Befreiung“ versicherten die DDR-Oberen den sowjetischen Befreiern unverbrüchliche Treue. Die DDR- Unteren bekamen dagegen Gelegenheit, weitere Höchstleistungen in der Produktion zu geloben.

1965, zum 20. Jahrestag des 8. Mai, „gedachte“ man der Befreiung in Ost-Berlin mit einer großen Truppenparade und nutzte das Datum, um zu behaupten, daß West-Berlin auf dem Territorium der DDR liege. Kein Wort im „Aufruf zum 20. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus“ indes vom Holocaust an den Juden oder gar von den deutschen Tätern. Statt dessen nur „Dank dem tapferen Sowjetvolk“. „Anlaß zum Feiern haben wir nicht“, meinte hingegen in der Bundesrepublik die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Es feierten die anderen: Niederländer in Amersfoort, Polen in Breslau, Tschechen in Prag, Russen in Moskau, Franzosen in Paris. Entrüstet über die Sieger- Feierlichkeiten in Paris zeigte sich der Spiegel: „Diesen Pomp zur Feier des Sieges über den Erbfeind, der sich für einen Freund hält, bereitet de Gaulles Minister Jean Sainteny seit acht Monaten vor.“ In Deutschland West sah man sich dennoch erstmals genötigt, den 8. Mai zu begehen: als eine Art vorgezogenen 17. Juni. Bundeskanzler Ludwig Erhard erinnerte am Vorabend des historischen Datums daran, daß die Bundesrepublik eindeutig und wiederholt der Gewalt abgeschworen habe. „Wir sind aber nicht bereit, duldsam gegenüber dem Unrecht zu sein und zu schweigen, wo uns brutale Gewalt das natürliche und feierlich proklamierte Recht der Selbstbestimmung vorenthalten will.“ In West-Berlin erklärte der Fraktionschef der Union, Rainer Barzel, am 8. Mai: „Wer das ganze Europa will, muß seinen freien Teil zusammen ordnen, und wer das will, muß zugleich die atlantische Partnerschaft suchen. Tun wir das nicht, wird Moskau zur Hauptstadt Europas.“ Von deutscher Schuld fiel kein Wort – DDR und BRD friedlich vereint.

In der „provisorischen Bundeshauptstadt“ Bonn tat sich indes am 8. Mai 1965 überhaupt nichts. Die einzige Siegesfeier, begangen vom sowjetischen Botschafter Smirnow in der Godesberger Stadthalle, wurde von den Deutschen boykottiert. Hans Kroll, ehemaliger BRD-Botschafter in Moskau: „Da kann ein Deutscher doch nicht hingehen und auf die eigene Niederlage trinken.“ Der sowjetische Botschaftssprecher nahm's gelassen: „Natürlich weil Sonntag ist, wo die Deutschen ja lieber ins Grüne gehen.“

1970 war's, die sozialliberale Koalition regierte, und die Entspannungspolitik mit dem Osten wurde gegen den heftigen Widerstand der Union vorangetrieben. Zum 25. Jahrestag des 8. Mai gedachte erstmals der Deutsche Bundestag der Kapitulation. Bundeskanzler Willy Brandt bezeichnete die Sicherung des Friedens als das „oberste Ziel unseres politischen Handelns“. Was in jenen Tagen 1945 von unzähligen Deutschen neben der persönlichen als nationale Not empfunden worden war, sei für andere Völker die Befreiung von Fremdherrschaft, Terror und Angst gewesen, so Brandt. Doch auch für die Mehrheit der Deutschen sei 1945 die Chance zum Neubeginn erwachsen.

Fünf Jahre später, 1975, fiel die Feierstunde zum 30. Jahrestag der deutschen Kapitulation im Bundestag aus. Der CDU-Abgeordnete Carl Carstens, früher Mitglied der NSDAP, später Bundespräsident, begründete das so: „Wir müssen uns doch darüber im klaren sein, daß dies ein Tag war, an dem deutlich wurde, daß das Deutsche Reich einen großen Teil seines Gebietes verlor und daß Millionen von Menschen ihre Heimat verloren. Ich kann beim besten Willen keinen Grund erkennen, ein solches Ereignis zu feiern.“ Der CDU-Abgeordnete Mertes setzte noch eins drauf. Die Zerschlagung der staatlichen Einheit Deutschlands sei „im Gegensatz zu einer heute weit verbreiteten Ansicht“ ausschließlich Folge mißbrauchten Besatzungsrechts. Doch Kanzler Helmut Schmidt fand immerhin Worte des Gedenkens auf einer Kabinettssitzung („Der Radikalismus von links und rechts hat keine Chance“), und Bundespräsident Walter Scheel sprach in der Bonner Schloßkirche („Ein widersprüchlicher Tag in der deutschen Geschichte“). In Frankfurt demonstrierten 25.000 Menschen gegen den Faschismus, und der Schriftsteller Bernt Engelmann erklärte, die Tatsache, „daß hierzulande der 30. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus kein Staatsfeiertag ist“, werte er als Zeichen dafür, „daß der Faschismus als latente Gefahr weiter vorhanden ist“.

1985, der 40. Jahrestag der Kapitulation, und wenig Neues in der DDR. Erstmals und nur in diesem Jahr seit 1966 – damals war der „Tag der Befreiung“ als Feiertag abgeschafft worden – war der 8. Mai ein gesetzlicher Feiertag. Der „Aufruf zum 40. Jahrestag des Sieges über den Hitlerfaschismus und der Befreiung des deutschen Volkes“ liest sich indes kaum anders als ähnliche Erklärungen aus den 50er Jahren: „Gemeinsam mit allen, die für Frieden Völkerverständigung, sozialen Fortschritt und Humanität einstehen, begeht unser Volk den 40. Jahrestag des Sieges der Sowjetunion über den Hitlerfaschismus und der Befreiung des deutschen Volkes von der Naziherrschaft.“ Die SED in der Front des Siegers.

„Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich.“ Dieser Satz Richard von Weizsäckers in seiner Rede am 8. Mai 1985 war es, der im konservativen Lager der Bundesrepublik einen Wertewandel manifestierte. Dieser Satz stellte eine 40jährige Geschichtsklitterei bloß, in der die Deutschen wieder nur als Opfer auftauchten – als die Verführten Hitlers und, anschließend, als die Leidtragenden von Vertreibung und Teilung. Die eigene Schuld kam darin, außer in der Abwehr der „Kollektivschuld“, nicht vor. 1985, im selben Jahr, als Bundeskanzler Kohl und Ronald Reagan in Bitburg über den Gräbern gefallener SS- Männer eine fettige Soße gemeinsamer Trauer jenseits von Opfern und Tätern anrührten, beendete Weizsäcker den Kalten Krieg um den 8. Mai: Dieses Datum habe „uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“. „Jeder Deutsche konnte miterleben, was jüdische Mitbürger erleiden mußten, von kalter Gleichgültigkeit über versteckte Intoleranz bis zum offenen Haß. Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, daß Deportationszüge rollten.“

Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.