Ein Dorf wird aus Frust weggepackt

Aus Protest gegen das Bauernhöfesterben, die Landflucht und die sinkende ländliche Lebensqualität verschwindet ein mittelfränkisches Dorf à la Christo unter einer riesigen blauen Plastikfolie  ■ Aus Weiler Bernd Siegler

Weiler am See ist ein unbedeutendes Nest direkt an der Romantischen Straße zwischen Rothenburg und Dinkelsbühl. Drei Bauernhöfe, knapp ein Dutzend Gebäude, exakt dreizehn Einwohner – das war's. Am Sonntag wird das Örtchen jedoch in aller Munde sein. Schaulustige werden herbeiströmen, Fernsehteams werden über die Viehweiden trampeln, und die Polizei wird den Verkehr an der Bundesstraße regeln müssen. Dann wird der ganze Ort in überdimensionalen blauen Plastikfolien eingepackt sein.

Nicht Verpackungskünstler Christo war in Mittelfranken am Werk, sondern eine örtliche Initiative, die mit dieser Aktion ein Zeichen gegen das Bauernhöfesterben, die Landflucht und den Verlust der ländlichen Lebensqualität setzen will.

Im Hof von Christian und Gertrud Kißlinger binden gerade Zivildienstleistende des Bundes Naturschutz die langen Bahnen der blauen Netzfolien zu breiten Flächen zusammen. Normalerweise wird die Folie zum Schutz der Weinberge gegen gefräßige Vögel verwendet. Abends wird die Plane dann mit Hilfe eines Krans über den Bauernhof gezogen. Für Haus- und Stalltüren bleiben nur noch Schlupflöcher. „Ob die Aktion etwas nützt, weiß man nicht, es ist halt eine Show“, zeigt sich die 54jährige Bäuerin skeptisch. „Aber es muß einfach etwas passieren.“

Der 20-Hektar-Milchviehbetrieb mit fünfzig Stück Vieh kann gerade noch das Ehepaar ernähren. „Das ist aber schon knapp an der Grenze“, betont Gertrud Kißlinger. An die Tiefflieger, die tagtäglich über den Hof donnern, hat sie sich längst gewöhnt, nicht jedoch an den Preisverfall der landwirtschaftlichen Produkte. „Für uns bleibt doch kaum mehr etwas übrig.“ Die Kinder seien auch schon alle weg, in der Landwirtschaft sehe eben keiner mehr eine Zukunft.

Ihre Nachbarin, Ruth Bühler, pflichtet ihr bei. „Man kann doch seinen Kindern nicht mehr guten Gewissens sagen, sie sollen den Hof übernehmen“, betont die 39jährige Bäuerin. Die Bühlers stellen mit sieben Einwohnern die Dorfmehrheit. Sie wohnen mit Schwiegereltern und drei Kindern in Weiler und kümmern sich um 120 Stück Milchvieh und 40 Mastschweine. Trotz der Größe des Hofes wirft er immer weniger ab. Der Frust über die „oben“, die nach Meinung der Bäuerin nur die Politik der Stillegung betreiben, schlägt leicht um in nationale Phrasen. „Die Deutschen sollen deutsche Produkte kaufen. Was brauchen wir Butter aus Irland oder Eier aus Holland?“ Der dritte im Bunde in Weiler, Ernst Lehr, hat zu Jahresbeginn mit der Vollerwerbslandwirtschaft aufgehört. Dort, wo einst der Zuchtbulle stand, lagern jetzt Plastikschläuche. Lehrs Haus ist bereits komplett in Folie verpackt. Von der Presse will der Ex-Landwirt nichts wissen. „Ich sage nichts, die haben sich bisher auch nicht um uns und unsere Probleme gekümmert.“

Für den Ideengeber der Einpack-Aktion ist Weiler ein typisches Beispiel für die ländliche Entwicklung. „Von den drei Vollerwerbsbetrieben hat einer aufgehört, der andere ist nahezu pleite, und der dritte hat nur die Alternative zu wachsen oder zu weichen“, beschreibt Heinrich Sindel den Strukurwandel, der seiner Meinung nach „unbemerkt von der Öffentlichkeit“ vor sich geht.

Der 43jährige betreibt im nahen Feuchtwangen einen Gasthof und bewirtschaftet mehrere Fischteiche. Er hat den Bund Naturschutz, die Jägervereinigung und den örtlichen Gewerbeverein, einen Zusammenschluß Feuchtwanger Geschäftsleute, für seine Verpackungsidee begeistert.

Auch Sponsoren hat Sindel gefunden, denn die insgesamt 17.000 Quadratmeter Folie sind nicht gerade billig. Nach der Aktion soll die blaue Plane an Baufirmen verkauft werden, die sie als Gerüstabdeckung verwenden können.

Jahrelang hatte der Gastronom und Karpfenzüchter versucht, mit landschaftspflegerischen Maßnahmen den Strukturwandel aufzuhalten. „Aber damit ist die Landschaft nicht zu erhalten.“ Da helfe nurmehr eine spektakuläre Aktion. Für den Sonntag, wenn alles eingepackt ist, hat Sindel den Musikverein Dinkelsbühl engagiert. Die Bauern werden ihre Erzeugnisse direkt ab Hof verkaufen, und eine Brauerei wird Bier ausschenken. Zwei Tage später wird Weiler wieder ausgepackt.

Sindel hofft, daß die Menschen dann darauf aufmerksam geworden sind, daß „immer mehr Dörfer mit ihren gewachsenen Strukturen allmählich von der Landkarte verschwinden“.