Opfer für den letzten Kick

Auf der Suche nach dem ultimativen Erlebnis ist Jürgen Klinsmann zwangsläufig auf einen Arbeitgeber namens FC Bayern München verfallen  ■ Von Peter Unfried

Düsseldorf (taz) – Weg vom Irrationalen und auf ins Zeitalter der Vernunft? Nichts könnte den Paradigmenwechsel in der deutschen Nationalmannschaft, so es denn einen gäbe, besser belegen als die Sache mit der Nummer 10. Wer kriegt jenen Reichsapfel, nachdem der Gralshüter und vermeintliche Besitzer, König Matthäus, genauso zugucken muß wie Junker Möller, dem sie zur Aufbewahrung übergeben ward? Häßler? Das, hat der Bundestrainer zunächst angetäuscht, „muß Icke selbst entscheiden.“ Haha, nur ein Witz das, in Wahrheit, bestätigte Berti Vogts, „hat's Jürgen schon gesagt: Die 10 kriegt Thomas Häßler.“ Woraus zweierlei folgen kann: Erstens, Jürgen Klinsmann (30) hat etwas zu sagen, wofür der neue Leithammel aller deutschen Kicker aber zweitens keiner Insignien der Macht bedarf und also nie auf die rational abwegige, doch nach den Gesetzen der Branche durchaus nachvollziehbare Idee käme, selbiges Trikot für sich einzufordern.

Es sitzen bei der handelsüblichen Pressekonferenz vor dem heutigen EM-Qualifikationsspiel gegen Wales in Düsseldorf (19.25 Uhr, ZDF) in den Katakomben des Rheinstadions neben dem Bundestrainer: Mehmet Scholl, zum Beispiel. Der brütet schlaff vor sich hin. Thomas Häßler, der lauscht mit abwehrend verschränkten Armen den Rednern. Und dazwischen, nicht zufällig in der Mitte plaziert, sitzt Jürgen Klinsmann, mit dem Vogts über den Kopf von Scholl hinweg flüstert. Jürgen gibt Auskunft über die Taktik der Waliser (hohe Bälle), über den Zustand des Rasens (ist enttäuscht), klopft auch mal dem Häßler kräftig auf die Schultern und fordert „Icke“ fröhlich aber vergeblich auf, „auch mal was dazu“ zu sagen. Und wenn's komplex wird oder um ferne Länder geht, dann, sagt Vogts, „kann der Jürgen das ja viel besser erklären als ich.“ Um es kurz zu machen: Der Mann ist Gold wert. In jeder Beziehung.

Das hat sich längst auch nach München herumgesprochen, Franz Beckenbauer hat sich mit Klinsmann vor ein paar Tagen an einen Zürcher Tisch gesetzt und wertet selbiges nun „als Zeichen, daß er wirklich Interesse hat“. Unterschrieben ist nichts, sagt Klinsmann, angehört hat er sich aber aufmerksam, was Beckenbauer zu erzählen hatte. Weil, wie er sagt, „das zu meinem Job gehört“. Danach hat er klar gemacht: „Sollte eine Rückkehr nach Deutschland in Frage kommen, dann wär's der FC Bayern.“ Und nur der. Und da schreit man nun mancherorten auf. Einer der „wenigen nachdenklichen Typen der Branche“ (Munzinger-Archiv), und dann der FC Bayern? Muß das sein? Sagen wir: Es läßt sich kaum vermeiden und wäre, verfolgt man die Vita des Bäckersohns, sehr konsequent.

Daß es den jungen Mann nach Erfahrungen auch jenseits der „Scheinwelt“ (Klinsmann) Fußball dürstete, ist so bekannt wie wahr. Daß es ihn darum in die Welt hinauszog, auch. Nur ist die Halbwertzeit des neuen Reizes immer kürzer geworden. Drei Jahre Mailand, zwei Monaco, nun glaubt er womöglich nach einem Jahr Tottenham, dort alles erlebt zu haben. Außerdem wird er im Sommer 31, was die Prioritäten noch einmal sehr in die sportliche Richtung verschoben hat. „Es gehört zu meinem Beruf“, sagt Jürgen Klinsmann, „daß man sich Gedanken macht.“ Aber interessanterweise sind seine vermutlich nicht ökonomischer Art. Nicht, daß er sich nicht um das Geld gekümmert hätte; im Gegenteil. Verdient hat der Immobilienfreund stets bestens, in Monaco, hat er einmal gesagt, hatte er einen „der besten fünf Verträge Europas“. Und heute verdient er, so glaubt die Branche, doppelt soviel wie Matthäus, und der wird mit drei Millionen veranschlagt. Bei Bayern München würde das ähnlich aussehen, aber auch Alan Sugar, der Selfmademan und Besitzer von Tottenham Hotspur, wedelt gern mit den Geldscheinen. Doch Klinsmann möchte sportliche Konzepte. „Wie sieht die Mannschaft aus? Welche Perspektiven hat der Verein?“ Der Mann plant den letzten großen Wechsel, und weil er die letzte große Herausforderung sein wird, plant er ihn sorgfältig. Tottenham hat womöglich vage Perspektiven. Die Bayern aber sind, sofern nicht noch Barcelona anklingelt, der ultimative Reiz.

Im Gegensatz etwa zu Kumpel Buchwald, der gerne in die Valium-Atmosphäre des VfB Stuttgart zurückkehren würde, käme der Heimatverein für Klinsmann nie in Betracht. Und einfach für die dortige Verdienstobergrenze 600.000 Mark in Freiburg den anderen Kicker und den anderen Verein zusammenbringen? Klingt sensationell aufregend, ist aber für andere reizvoller als für ihn. Auf die Idee käme er gar nicht. Nur im Reizklima Münchens, wo Umfeld und die oligarchisch herrschende Clique der Altgrantler jeden Spieltag zur Gratwanderung zwischen Extremen machen, kann sich einer wie er noch einmal aufputschen.

Es scheint tatsächlich nie erlöschender Ehrgeiz zu sein, der ihn treibt, gepaart mit der bisher stets bestätigten Annahme, sich überall durchzusetzen. Die angeblich essentielle Europapokalteilnahme, sagt Klinsmann, „ist sicher wichtig, aber nur ein Punkt.“ Der wichtigere wäre: Die neuen Bayern zur Meisterschaft zu führen. Es wäre seine erste, und dafür würde er dem Klub auch sein derzeit im ganzen Land gleichmäßig unerreichtes Image opfern. Mit dem jener natürlich auch spekuliert. Können Bayern mit Klinsmann noch die bösen Bayern sein? Nach all jenem Großen, „was Jürgen in letzter Zeit gespielt hat, besonders auch in der Nationalelf“? Das hat Lothar Matthäus (34) gesagt, der ohne sich wehren zu können zusehen muß, wie dies „das Jahr des Jürgen Klinsmann“ (Matthäus) ist. Und dem klar sein muß, daß der Neuzugang ihn in der internen Hackordnung eins nach hinten rutschen lassen würde. Mindestens. Oder planen die Chefs gar bereits mit der Achse Helmer-Klinsmann? Jedenfalls, sagt Matthäus, habe er es „nie jemandem geneidet, wenn er mehr verdiente“ und Klinsmann sei „auf alle Fälle“ herzlich willkommen.

Was ihn, der sie einst vom Kameraden Thon einforderte, beruhigen mag: Seine Nummer 10 würde ihm der neue Chef nie vom Oberkörper zerren.