Staat als Opfer, Land der Täter

50 Jahre „Neues Österreich“: eine widersprüchliche Bilanz  ■ Von Robert Misik

Viele Worte wollten die Österreicher nicht verlieren, als nach der Kapitulation des Dritten Reiches ihr Land in Trümmern lag, dafür aber seinen Platz auf den Landkarten zurückerhalten hatte. „Unser Heimatland, das erste Opfer des faschistischen Imperialismus in der Welt, ist wieder frei und selbständig geworden“, verkündete die neue Regierung 1945. Hatten doch die Anti-Hitler-Koalitionäre bereits 1943 in ihrer Moskauer Deklaration verkündet, Österreich werde als Hitlers „erstes Opfer“ gesehen, und, nach Zerschlagung des Nazi-Reiches, auch als solches bevorzugt behandelt.

Zwar posaunten die Allierten zunächst derlei vor allem deshalb durch den Äther, um den alpenländischen Widerstand zu inspirieren. Doch nach 1945 geriet die Sprachregelung der Moskauer Erklärung zum Gründungsmythos der Zweiten Republik. Drei Jahre später hatte sich diese Lebenslüge etabliert. Anläßlich des 10. Jahrestages des Novemberpogroms von 1938 glaubte Bundeskanzler Leopold Figl „zu Ehren dieses Landes nicht oft genug daran erinnern“ zu können, „daß alle diese Verbrechen und Scheußlichkeiten jenseits unserer Grenzen erdacht und organisiert worden sind“.

Dieser Glaube ist freilich längst erschüttert. Wenn Bundespräsident Klestil und Kanzler Vranitzky in einem feierlichen Akt der Wiederbegründung Österreichs am 27. April vor 50 Jahren gedenken, werden sie, wie in den letzten Jahren häufig, auf die Mitverantwortung Österreichs, vor allem aber auf die Mitbeteiligung seiner Bürger hinweisen, von Scham und der historischen Bürde reden, die auf dem Lande laste. Längst ist Einigkeit darüber erzielt, daß das österreichische Spezifikum, die Verantwortung für die Jahre 1938 bis 1945 den Deutschen und damit der Bundesrepublik zuzuschieben, eine offene Auseinandersetzung und damit auch eine Katharsis verhindert hatte.

Das ist eine Einschätzung, auf die sich die liberale Öffentlichkeit des Landes seit 1986 verständigt hat, als mit der Debatte um die Wehrmachtsvergangenheit Kurt Waldheims jener Streit die Alpenrepublik entzweite, der in der BRD seit den Auschwitz-Prozessen getobt hatte. Dabei war auch in Österreich nach 1945 geforscht worden, und es konnte, wer Ohren hatte, längst jeder darüber Bescheid wissen, daß die antijüdischen Ausschreitungen nach 1938 in Österreich besonders widerwärtig und der Anteil an Österreichern unter den NS-Verbrechern überproportional hoch war. Auch hatte die Theorie, daß Österreich 1938 völkerrechtswidrig okkupiert worden war, ihre positiven Seiten; so konnten sich weniger Ex-Nazis in Spitzenpositionen des öffentlichen Lebens, etwa in der Rechtsprechung, halten – einfach weil das Land, dem sie dienten, untergegangen war und Österreich wenig Veranlassung sah, sie weiter zu beschäftigen.

Die Bonner Republik, die sich als Rechtsnachfolger des Dritten Reiches sah, hatte es da schwerer. Es wäre auch historisch ungerecht, würde man behaupten, die Österreicher seien lange Zeit nazitreu gewesen. Eher das Gegenteil ist der Fall. Doch wahr ist schließlich auch, daß viele Österreicher sich nicht deshalb von den Nazis abgewandt hatten, weil diese Mörder gewesen sind, sondern einfach weil viele verantwortliche Stellen mit „Reichsdeutschen“ besetzt worden waren; das vergrämte sogar viele eingesessene österreichische Nazis, die sich prestigeträchtige Posten erhofft hatten. Diese gar nicht hehre Haltung hat freilich auch dazu geführt, daß sich bereits lange vor 1945 antideutsche Ressentiments ausgebreitet hatten.

So konnte sich die große Mehrheit der Bevölkerung, die vor 1938 „deutsch“ fühlte, mit dem Land Österreich identifizieren. Doch die „Kehrseite der offiziellen Opfertheorie“, so der Historiker Ernst Hanisch in seinem Standardwerk über Österreich im 20. Jahrhundert, war ein belastendes Schweigen, ein Nicht-darüber-Reden, das sprachliche Reflexe aus dem Fundus des Tausendjährigen Reiches der Tabuisierung entzog. Waldheim mußte kommen, um das aufzubrechen. Insofern hat sich diese höchst mittelmäßige Figur um sein Land verdient gemacht, weil er seinen Dienst in einem verbrecherischen Krieg immer noch als „Pflichterfüllung“ geltend machen wollte. Und weil plötzlich viele, die sich immer als Hitlers „erste Opfer“ gerierten, als das dastanden, was sie wirklich waren: Mittäter.